Arthas diente dem Lichkönig nun über einen von dessen Abgesandten, einen Schreckenslord, der beinahe so aussah wie Mal’Ganis. Wieder so eine Ironie des Schicksals, doch auch das war ihm letztlich gleichgültig.
»Wie Mal’Ganis bin ich ein Schreckenslord. Doch ich bin nicht dein Gegner«, hatte Tichondrius ihm versichert. Seine Lippen hatten sich dabei zu einem Lächeln verzogen, das Hohn in sich barg. »Eigentlich wollte ich dir gratulieren. Indem du deinen eigenen Vater getötet und das Land der Geißel ausgeliefert hast, hast du deine erste Prüfung bestanden. Der Lichkönig ist mit deinem… Eifer hochzufrieden.«
Arthas spürte zwei widerstreitende Gefühle – Schmerz und Jubel.
»Ja«, sagte er und bemühte sich um einen festen Tonfall vor dem Dämon. »Ich habe jeden und alles, was ich jemals geliebt habe, in seinem Namen in die Verdammnis geschickt und ich spüre immer noch keine Reue. Kein Bedauern. Keine Scham.«
Doch aus seinem tiefsten Herzen meldete sich unverzüglich eine andere Stimme, die nicht Frostgram gehörte, und schalt ihn: Lügner!
Er unterdrückte das Gefühl, das in ihm aufsteigen wollte. Jene lästige Stimme würde zum Schweigen gebracht werden müssen. Er konnte sich keine Milde leisten. Die störende Stimme war wie Wundbrand und würde ihn verzehren, wenn er es zuließ.
Tichondrius schien es nicht zu bemerken. Er wies auf Frostgram. »Die Runenklinge, die du trägst, wurde vor langer Zeit von meinem Volk geschmiedet. Der Lichkönig hat sie verändert, damit sie Seelen stehlen kann. Deine war die Erste, die sie nahm.«
Zwiespältige Gefühle wallten in Arthas auf. Er blickte die Klinge an. Tichondrius’ Wortwahl war ihm nicht entgangen. Stehlen. Hätte der Lichkönig seine Seele im Austausch dafür verlangt, um sein Volk zu retten, hätte Arthas sie ihm freiwillig gegeben. Doch der Lichkönig hatte so etwas nicht verlangt, er hatte sie sich einfach genommen. Und nun war sie in der leuchtenden Waffe eingeschlossen, so nah bei Arthas, dass der Prinz – der König – sie beinahe berühren konnte. Hatte Arthas das bekommen, weswegen er ausgezogen war? War sein Volk gerettet worden?
War das wichtig?
Tichondrius beobachtete ihn genau.
»Dann werde ich eben ohne Seele leben«, sagte Arthas leichthin. »Was will der Lichkönig?«
Arthas sollte, wie sich herausstellte, die Reste vom Kult der Verdammten einsammeln, um so Unterstützung für ein größeres Unternehmen zu erhalten – die Bergung von Kel’Thuzads Überresten.
Sie lagen, so hatte man ihm berichtet, in Andorhal, wo Arthas persönlich sie zurückgelassen hatte. Eine stinkende Lache von verwesendem Fleisch. Andorhal, das war die Stadt, aus der die Lieferungen des verseuchten Korns stammten. Er erinnerte sich an seine Wut, als er den Nekromanten getötet hatte. Doch nun spürte er sie nicht mehr. Ein Lächeln bildete sich auf seinen bleichen Lippen. Es war die reine Ironie.
Die Gebäude, die einst gebrannt hatten, waren jetzt nur noch verkohltes Holz. Niemand außer den Untoten sollte hier sein… und dennoch…
Arthas furchte die Stirn und zog an den Zügeln. Invincible blieb stehen, im Tod so gehorsam, wie er es im Leben gewesen war. Arthas konnte vor sich einige Gestalten ausmachen. Das wenige Licht des düsteren Tages spiegelte sich auf…
»Rüstungen«, murmelte er. Männer in Rüstungen standen am Rand des Friedhofs. Ein weiterer wartete neben einer kleinen Gruft. Arthas blinzelte und dann weiteten sich seine Augen. Es waren keine normalen Krieger. Das waren Paladine. Und er wusste, warum sie hier waren. Kel’Thuzad schien das Interesse vieler zu erregen.
Aber er hatte den Orden doch aufgelöst. Es sollte keine weiteren Paladine mehr geben, die sich hier sammeln konnten. Frostgram wisperte in ihm, es war hungrig. Arthas zog die mächtige Runenklinge und hob sie an. Die kleine Armee von Akolythen, die ihn begleitete, sollte das Schwert sehen, damit sie davon inspiriert wurde.
Er stürmte vor. Invincible preschte los und Arthas sah den Schrecken auf den Gesichtern der Friedhofswächter, als er herandonnerte. Sie würden tapfer kämpfen, doch letztlich war ihr Einsatz sinnlos und sie wussten es auch. Er konnte es in ihren Augen lesen.
Er hatte gerade Frostgram gezogen und spürte förmlich die Vorfreude des Schwertes darauf, eine weitere Seele an sich zu reißen, als eine Stimme rief: »Arthas!«
Arthas hatte diese Stimme schon zuvor gehört, aber nicht zuordnen können. Er wandte sich dem Sprecher zu. Der Mann war groß und imposant. Er hatte seinen Helm abgenommen. Der dichte Bart rief ihn Arthas in Erinnerung.
»Gavinrad«, sagte er überrascht. »Es ist lange her.«
»Nicht lange genug. Wo ist der Hammer, den wir Euch geschenkt haben?«, sagte Gavinrad und spie die Worte beinahe aus. »Die Waffe eines Paladins. Eine Waffe der Ehre.«
Arthas erinnerte sich. Gavinrad hatte ihm seinerzeit den Hammer zu Füßen gelegt. Wie sauber, wie rein, wie einfach alles damals gewirkt hatte.
»Ich habe nun eine bessere Waffe«, sagte Arthas. Er hob Frostgram an. Es schien in seiner Hand zu pulsieren. Eine Laune überkam ihn und er gab ihr nach. »Tretet beiseite, Bruder«, sagte er, eine merkwürdige Güte lag in seiner Stimme. »Ich bin hier, um einige alte Knochen einzusammeln. Zum Wohle aller und für den Orden, dem wir beide einst angehörten, wird Euch nichts geschehen, wenn Ihr mich durchlasst.«
Gavinrads buschige Augenbrauen zogen sich zusammen und er spuckte in Arthas’ Richtung. »Ich kann nicht glauben, dass wir Euch jemals Bruder genannt haben. Warum Uther sich je für Euch eingesetzt hat, ist mir ein Rätsel. Euer Verrat hat Uther das Herz gebrochen, Junge. Er hätte jederzeit sein Leben für Euch gegeben und so vergeltet Ihr ihm seine Loyalität? Ich wusste, dass es ein Fehler war, einen verwöhnten Prinzen in unseren Orden aufzunehmen. Ihr habt die Silberne Hand zum Gespött gemacht!«
Wut stieg in Arthas auf. Es geschah so schnell und sie war so stark, dass er fast daran erstickte. Wie konnte Gavinrad es wagen? Arthas war ein Todesritter, die rechte Hand des Lichkönigs. Leben, Tod und Untote – alles fiel in seinen Bereich. Und Gavinrad spuckte auf sein Angebot. Arthas biss die Zähne zusammen.
»Nein, mein Bruder«, knurrte er leise. »Erst wenn ich Euch töte, als meinen Diener wiedererwecke und Ihr schließlich nach meiner Pfeife tanzt, Gavinrad, mache ich die Silberne Hand zum Gespött.«
Er lächelte ihn höhnisch an. Die Untoten und die Kultisten, die Arthas begleiteten, warteten stumm ab. Gavinrad stürmte nicht vor, doch er sammelte sich, betete zum Licht, das ihn nicht retten würde.
Arthas ließ ihn sein Gebet beenden, wartete, bis Gavinrads Waffe leuchte, wie es Arthas’ eigener Hammer einst getan hatte. Mit Frostgram in seiner Hand und den Kräften des Lichkönigs, die durch seinen toten-und-auch-nicht-toten Körper strömten, als Reserve, war er Gavinrad haushoch überlegen.
Der Paladin kämpfte mit allem, was er hatte, doch es reichte nicht aus. Arthas spielte ein wenig mit ihm und reagierte dabei die Wut ab, die Gavinrads Worte verursacht hatte. Doch schnell war er des Spiels überdrüssig und tötete seinen einstigen Waffenbruder mit einem einzigen mächtigen Schlag. Er spürte, wie Frostgram erwachte und eine weitere Seele nahm. Arthas schauderte, als Gavinrads lebloser Körper zu Boden fiel. Entgegen seiner Drohung, die er dem nun besiegten Feind angekündigt hatte, belebte Arthas ihn nicht wieder.
Mit einer knappen Geste befahl er seinen Dienern, den Leichnam zu bergen. Er hatte Kel’Thuzad dort verrotten lassen, wo er gefallen war. Doch irgendjemand, zweifelsfrei die dem Nekromanten ergebenen Anhänger, hatten ihn mittlerweile in eine kleine Gruft gelegt.