Die Akolythen vom Kult der Verdammten stürmten nun vor, fanden die Gruft und schoben mit Mühe den Deckel beiseite. In der Gruft befand sich ein Sarg, der eilig herausgeholt wurde. Arthas stieß ihn mit dem Fuß an und lächelte.
»Komm mit, Nekromant«, sagte er spöttelnd, als der Sarg auf ein Gespann geladen wurde, das man »Fleischwagen« nannte. »Die Kräfte, denen du einst gedient hast, brauchen dich erneut.«
»Ich hatte Euch doch prophezeit, dass mein Tod nur wenig bedeutet.«
Arthas erstarrte. Er hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, Stimmen zu hören. Der Lichkönig sprach fast permanent durch Frostgram zu ihm. Doch das hier war anders. Er erkannte die Stimme. Er hatte sie zuvor schon gehört. Doch da war sie voller Arroganz und Spott gewesen und hatte nicht vertraulich und verschwörerisch geklungen.
Kel’Thuzad.
»Was zum… höre ich jetzt Geister sprechen?«
Er hörte den Nekromanten nicht nur. Er sah ihn auch. Kel’Thuzads Gestalt bildete sich langsam vor seinen Augen, durchscheinend und schwebend, die Augen wie schwarze Löcher. Doch er war es ganz eindeutig. Auf den geisterhaften Lippen bildete sich ein wissendes Lächeln.
»Ich hatte recht, was Euch anging, Prinz Arthas.«
»Du hast lange genug dafür gebraucht.« Der barsche, wütende Tonfall von Tichondrius’ Stimme schien aus dem Nichts zu kommen und der Geist – wenn er tatsächlich da gewesen war – verschwand. Arthas war erschüttert. Hatte er sich das nur eingebildet? Verlor er neben seiner Seele auch noch den Verstand?
Tichondrius hatte nichts bemerkt, öffnete den Sarg und Arthas blickte angewidert auf den beinahe verflüssigten Leichnam von Kel’Thuzad. Arthas fand, dass der Gestank erträglicher war, als er erwartet hatte, obwohl er immer noch schlimm roch. Es schien bereits ein ganzes Leben her zu sein, dass er den Nekromanten mit seinem Hammer getötet und die viel zu schnelle Verwesung des Mannes miterlebt hatte. »Die Überreste sind übel zersetzt. Sie werden die Reise nach Quel’Thalas nie überstehen.«
Arthas nahm die Ablenkung auf. »Quel’Thalas?« Das goldene Land der Elfen…
»Ja. Nur die Energien des Sonnenbrunnens der Hochelfen können Kel’Thuzad zurück ins Leben bringen.« Das Stirnrunzeln des Schreckenslords vertiefte sich. »Und mit jedem Augenblick, der verstreicht, zerfällt er weiter. Du musst eine sehr spezielle Urne stehlen, die die Paladine hüten. Sie bringen sie in diesem Moment hierher. Leg die Überreste des Nekromanten hinein und er ist gut für die Reise geschützt.«
Der Schreckenslord lächelte. Es steckte mehr dahinter, als es zuerst den Anschein hatte. Arthas öffnete den Mund und wollte widersprechen. Doch dann schloss er ihn wieder. Tichondrius würde es ihm ohnehin nicht sagen. Er zuckte die Achseln, stieg auf Invincible und ritt zu seinem neuen Ziel.
Hinter sich hörte er das düstere Lachen des Dämons.
Tichondrius hatte recht gehabt. Eine kleine Bestattungsprozession schritt langsam und zu Fuß die Straße entlang. Es war ein militärisches Begräbnis oder eins für einen hohen Würdenträger. Arthas erkannte die Symbole. Mehrere Männer in Rüstungen marschierten in einer Reihe, ein Mann in der Mitte trug etwas auf seinen kräftigen Armen. Die schwache Sonne spiegelte sich auf seiner Rüstung und auf dem, was er in Händen hielt – die Urne, von der Tichondrius gesprochen hatten. Und plötzlich verstand er, was Tichondrius daran so seltsam gefunden hatte.
Die Kleidung des Paladins war markant, seine Rüstung einzigartig und Arthas umfasste Frostgram fester mit den Händen, die unsicher geworden waren. Er unterdrückte die unzähligen verwirrenden, beunruhigenden Gefühle und befahl seinen Untergebenen, näher heranzurücken.
Die Beerdigungsgesellschaft war nicht groß, obwohl sie voller vornehmer Krieger war, und es war leicht, sie zu umgehen. Die Männer zogen ihre Waffen, griffen aber nicht an. Stattdessen blickten sie erwartungsvoll zu dem Mann, der die Urne trug. Uther – er war es ganz eindeutig – schien völlig beherrscht, als er seinen früheren Schüler betrachtete. Sein Gesicht war faltiger, als Arthas es in Erinnerung hatte. Seine Augen aber brannten vor gerechtem Zorn.
»Der Hund kehrt zu seinem Erbrochenen zurück«, sagte Uther und die Worte schmerzten wie ein Peitschenhieb. »Ich habe darum gebetet, dass Ihr nicht kommen würdet.«
Arthas zuckte leicht. Seine Stimme war rau, als er antwortete: »Ich bin wie gefälschte Münzen – ich komme immer wieder zurück. Wie ich sehe, nennt Ihr Euch immer noch Paladin, auch wenn ich Euren Orden aufgelöst habe.«
Uther lachte bitter. »Als ob Ihr ihn auflösen könntet. Ich bin dem Licht verpflichtet, Junge. So wie Ihr einst auch.«
Das Licht. Er erinnerte sich noch daran. Sein Herz bebte in seiner Brust und für einen Moment, nur für einen kurzen Moment, senkte er das Schwert. Dann kam das Flüstern und es gemahnte ihn an die Macht, über die er nun verfügte. Und unterstrich, dass sein Wandeln auf dem Pfad des Lichts ihm nicht das eingebracht hatte, was er wollte. Arthas umfasste Frostgram erneut fest.
»Einst habe ich viele Dinge getan«, gab er zurück. »Doch das tue ich nicht mehr.«
»Euer Vater hat dieses Land fünfzig Jahre lang regiert und Ihr habt es binnen weniger Tage zugrunde gerichtet. Aber Vernichten und Zerstören ist einfach, oder?«
»Sehr dramatische Worte, Uther. Doch so schön das auch ist, habe ich dennoch keine Zeit für Erinnerungen. Ich bin wegen der Urne hier. Gebt sie mir und ich werde Euch schnell sterben lassen.«
Diesmal würde es keine Gnade geben. Nicht einmal, wenn er darum bettelte. Erst recht nicht, wenn er bettelte. Zwischen ihnen war zu viel geschehen. Zu viele… Emotionen hatten sich aufgestaut.
Jetzt überkam Uther ein anderes Gefühl als Wut. Er starrte Arthas entgeistert an. »In der Urne befindet sich die Asche Eures Vaters, Arthas! Wollt Ihr noch einmal darauf urinieren, bevor Ihr sein Königreich verrotten lasst?«
Ein Schock durchfuhr Arthas.
Vater…
»Ich wusste nicht, was sich darin befindet«, murmelte er, genauso zu sich selbst wie zu Uther. Das war also der Grund, warum der Schreckenslord gelacht hatte, als er Arthas die Anweisungen erteilt hatte. Er zumindest hatte gewusst, was die Urne enthielt.
Eine Prüfung nach der anderen. Konnte Arthas seinen Mentor bekämpfen… konnte er die Asche seines Vaters schänden? Arthas reichte es allmählich. Er zügelte seinen Zorn, während er abstieg und Frostgram mit sich zog.
»Das ist auch egal. Ich nehme mir einfach das, was ich holen wollte – auf die eine oder andere Art.«
Frostgram summte jetzt beinahe, sowohl in seinem Geist als auch in seiner Hand. Es war bereit für den Kampf. Arthas begab sich in Gefechtsposition. Uther musterte ihn für einen Moment, dann hob er langsam seine eigene leuchtende Waffe.
»Ich wollte es nicht glauben«, sagte er, seine Stimme klang barsch und Arthas sah mit Schrecken, dass Uther weinte. »Als Ihr noch jünger wart, habe ich Eure Selbstsucht noch als den Fehler eines Kindes abgetan. Als Ihr weiter stur bliebt, habe ich geglaubt, es gehöre eben zur Jugend, sich aus dem Schatten des Vaters zu befreien. Und Stratholme – aye, das Licht vergebe mir –, ich betete dafür, dass Ihr Euren eigenen Weg finden und Euren Fehler einsehen würdet. Ich konnte mich nicht gegen den Sohn meines Königs stellen.«
Arthas zwang sich zu lächeln, als er und Uther sich umkreisten. »Doch jetzt tut Ihr es.«
»Das war mein letztes Versprechen an Euren Vater. An meinen alten Freund. Ich werde dafür sorgen, dass seine Überreste mit Respekt behandelt werden. Selbst nachdem sein eigener Sohn ihn brutal abgeschlachtet hat, obwohl er ahnungslos und unbewaffnet war.«
»Für dieses Versprechen werdet Ihr sterben.«
»Vielleicht.« Es schien Uther nicht sehr zu stören. »Ich sterbe lieber dabei, dieses Versprechen zu ehren, als dass ich durch Eure Gnade weiterlebe. Ich bin froh, dass er tot ist. Ich bin froh, dass er nicht miterleben muss, was aus Euch geworden ist.«