Sylvanas lag oben auf dem großen Tor, das ihr Land zusammen mit dem schroffen Bergring schützte. Sie trug eine vollständige, aber bequeme Lederrüstung und den Bogen hatte sie geschultert. Sie sowie Sheldaris und Vor’athil, die beiden anderen Kundschafter, die vorausgeeilt waren und darauf gewartet hatten, dass sie mit der Hauptmacht der Waldläufer nachkam, tauschten entsetzte Blicke. Wie Kelmarin ihnen prophezeit hatte, rochen sie den Gestank der verfaulenden Armee schon lange, bevor sie die Geißel selbst zu Gesicht bekamen. Doch nun war es so weit.
Prinz Arthas ritt auf einem Skelettpferd mit feurigem Blick. Das große Schwert, das er über dem Rücken trug, erkannte sie sofort als Runenklinge. Menschen in dunkler Kleidung eilten hin und her, um seine Befehle auszuführen. Das taten auch die Toten. Sylvanas spürte, wie ihr die Galle hochkam, als ihr Blick über die Schar verfaulender Leichen glitt. Im Stillen war sie dankbar, dass der Wind sich gedreht hatte und nun den Gestank entführte.
Mit Gebärden übermittelte sie ihren Plan. Ihre langen Finger bewegten sich schnell und die Kundschafter nickten. Sie verschwanden leise wie Schatten. Sylvanas wandte ihren Blick wieder Arthas zu. Er schien nichts davon bemerkt zu haben. Er sah immer noch menschlich aus, obwohl er bleich und sein Haar nun weiß statt blond war, genau so, wie man es ihr beschrieben hatte. Wie konnte er es nur aushalten, von den Toten umgeben zu sein, dem schrecklichen Gestank, den grotesken Bildern…?
Sie erschauderte und konzentrierte sich nur mühsam. Die Untoten, die ihm gehorchten, standen einfach herum und erwarteten seine Befehle. Die Menschen – Nekromanten, Sylvanas spürte eine Woge von Abscheu – waren damit beschäftigt, neue Monstrositäten zu erschaffen, statt Wachen zu postieren. Sie zogen eine Niederlage überhaupt nicht in Betracht.
Ihre Arroganz würde ihr Verderben werden.
Sie wartete und beobachtete den Feind, bis ihre Bogenschützen in Position gegangen waren. Von Kelmarin vorgewarnt, hatte sie zwei Drittel der Waldläufer zusammengerufen. Sie glaubte fest daran, dass Arthas die magischen Elfentore, die Quel’Thalas beschützten, nicht durchbrechen konnte. Es gab zu viel, was er unmöglich darüber wissen konnte. Dennoch… sie hatte sich auch das nicht vorstellen können, was sie nun mit eigenen Augen sah. Es war besser, der Bedrohung hier und jetzt entgegenzutreten und sie zu beseitigen.
Sie schaute zu Sheldaris und Vor’athil. Sie deuteten ihren Blick richtig und nickten. Beide waren bereit. Sylvanas hätte ihre Feinde am liebsten mit einem schnellen Angriff überrascht, doch die Ehre verbot es ihr. Niemand sollte später behaupten können, dass Waldläufergeneral Sylvanas Windläufer ihre Heimat hinterhältig verteidigt hatten.
»Für Quel’Thalas«, flüsterte sie und stand dann auf. »Ihr seid hier nicht willkommen!«, rief sie. Ihre Stimme war klar, melodisch und stark.
Arthas wandte sein Skelettpferd um – Sylvanas nahm sich einen Augenblick, um das arme Tier zu bedauern – und blickte sie durchdringend an. Die Nekromanten verstummten, wandten sich an ihren Herrn und warteten auf Anweisungen.
»Ich, Sylvanas Wildläufer, Waldläufergeneral von Silbermond, befehle Euch, sofort umzukehren.«
Arthas’ Lippen, grau in einem weißen Gesicht, das doch noch irgendwie lebendig wirkte, verzogen sich zu einem Lächeln. Er schien belustigt.
»Ihr solltet Euch zurückziehen, Sylvanas«, sagte er und ließ absichtlich ihren Titel weg. Seine Stimme hätte wie ein angenehmer Bariton geklungen, wäre da nicht dieser merkwürdige Unterton gewesen. Selbst ihr tapferes Herz setzte für einen Moment lang aus. Sie unterdrückte einen Schauder. »Der Tod ist in Euer Land gekommen.«
Ihre blauen Augen zogen sich zusammen. »Dann tut Euer Schlimmstes«, forderte sie ihn heraus. »Das Elfentor zum inneren Königreich wird von unseren mächtigsten Zaubern beschützt. Ihr kommt hier nicht vorbei.«
Sie legte einen Pfeil auf den Bogen auf – das Zeichen zum Angriff. Einen Augenblick später war die Luft plötzlich vom Zischen Dutzender Geschosse erfüllt. Sylvanas hatte auf den Menschen gezielt – oder besser: ehemaligen Menschen – und sie war dabei so präzise wie immer. Der Pfeil sang, als er auf Arthas ungeschützten Kopf zuschoss. Doch einen Augenblick, bevor er sein Ziel traf, sah sie einen blauweißen Blitz.
Sylvanas erstarrte. Schneller, als sie schauen konnte, hatte Arthas sein Schwert gezogen. Die Runen darauf erstrahlten blauweiß. Die Klinge teilte den Pfeil in zwei Hälften.
Der Prinz lächelte sie an und zwinkerte ihr zu. »Zum Angriff, meine Truppen – tötet sie alle, damit sie mir und meinem Herrn dienen können!«, brüllte er. Seine Stimme war vom merkwürdigen Dröhnen der Macht durchdrungen.
Sylvanas knurrte tief in ihrer Kehle und zielte erneut. Doch Arthas bewegte sich nun, das tote Pferd trug ihn mit unnatürlicher Schnelligkeit, und sie erkannte, dass seine schrecklichen Truppen jetzt zum Angriff übergingen.
Arthas’ Armee erinnerte Sylvanas an einen Schwarm Insekten, der sich perfekt in seiner geistlosen Eintracht auf die elfischen Waldläufer zubewegte. Die Bogenschützen hatten ihre Anweisungen – tötet zuerst die Lebenden, dann entzündet die Toten mit Brandpfeilen. Die erste Wucht an Pfeilen traf beinahe jeden Einzelnen der Kultisten. Die zweite Welle ließ Dutzende wandelnde Leichen in Flammen aufgehen. Doch obwohl die Untoten herumtaumelten, manche dabei so trocken wie Zunder, andere feucht und verfault, begann ihre schiere Menge das Blatt zu wenden.
Irgendwie schafften sie es, die beinahe senkrechten Wände aus Erde und Stein hinaufzuklettern, auf denen ihre Waldläufer postiert waren. Einige der wandelnden Toten waren glücklicherweise derart zerfallen, dass sie nicht weit kamen. Ihre verrottenden Glieder fielen von ihren Körpern und sie stürzten. Doch das hielt die untote Flut nicht auf. Sie rückte immer weiter nach oben vor, auf die Waldläufer zu, die nun mit Schwertern statt Pfeilen kämpfen mussten. Die Elfen waren auch im Nahkampf geübte Krieger. Allerdings nur gegen Feinde, die durch den Verlust von Blut oder Gliedmaßen gestoppt oder zumindest beeinträchtigt werden konnten. Aber gegen diese…
Tote Hände, eher Klauen als Finger, griffen nach Sheldaris. Mit grimmigem Gesicht kämpfte die rothaarige Waldläuferin verbissen dagegen an. An ihren Lippen konnte Sylvanas ihre trotzigen Schreie erkennen, hören konnte sie sie nicht. Doch die Untoten kamen immer näher und Sylvanas spürte einen tiefen Schmerz, als sie sah, wie Sheldaris unter dem Ansturm der Untoten starb.
Sylvanas legte Pfeile auf und feuerte immer wieder, fast schon schneller, als sie denken konnte. Dabei konzentrierte sie sich auf ihr Ziel. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie eine groteske geflügelte Kreatur mit grauer Haut, die so fest wie Stein wirkte. Keine drei Meter von ihr entfernt setzte sie auf. Das fledermausähnliche Gesicht quiekte vor Freude, als das geflügelte Monster sich so beiläufig, als pflücke es eine reife Frucht, Vor’athil schnappte und ihn mit sich riss. Die Klauen der Bestie gruben sich tief in die Schulter des Kundschafters ein und sein Blut spritzte auf Sylvanas.
Vor’athil kämpfte gegen den Griff der Kreatur an und zog einen Dolch heraus. Sylvanas wandte sich von ihrem vorherigen Ziel, einem Untoten unter ihr, ab und feuerte auf das Monster über ihr. Sie schoss genau in den Hals des Tieres.
Der Pfeil prallte harmlos davon ab. Die Kreatur warf ihren Kopf herum, knurrte und war des Herumspielens mit Vor’athil müde. Sie hob eine Hand und kratzte mit der Klaue über seine Kehle. Dann ließ sie ihn gedankenlos fallen und suchte nach weiteren Gegnern.
Still trauernd sah Sylvanas, wie ihr umgebrachter Freund zu Boden fiel. Sein Körper traf auf einen Haufen toter Kultisten, die ihre Waldläufer erst kurz zuvor getötet hatten.