Und dann… keuchte sie.
Die Kultisten bewegten sich.
Unzählige Pfeile ragten aus den Leichen hervor. Manchmal steckten über ein Dutzend der bunt gefiederten Geschosse in einem einzigen Körper – und dennoch bewegten sie sich.
»Nein«, flüsterte sie und fühlte sich schlecht. Ihr erschrockenes Gesicht wandte sich Arthas zu.
Der Prinz blickte sie an, zeigte sein verfluchtes Lächeln. Eine mächtige, gepanzerte Hand umfasste die Runenklinge. Die andere war zu einer lockenden Geste erhoben und sie sah, wie sich ein weiterer getöteter Mensch bewegte und auf die Beine kam. Er zog sich den Pfeil aus dem Auge, als wäre es eine Klette an der Kleidung.
Sylvanas Angriff hatte Arthas nichts gekostet. Jeder getötete Elf war durch schwarze Magie neu belebt worden. Arthas bemerkte ihr Begreifen, sah die Wut in ihren Augen und das Lächeln wurde zum Gelächter.
»Ich habe versucht, es Euch zu sagen«, rief er. Seine Stimme erhob sich über das Toben der Schlacht. »Und dennoch versorgt Ihr mich mit neuen Rekruten…«
Er machte erneut eine Geste und ein weiterer Leichnam zuckte, als er angehoben und gezwungen wurde, auf seinen eigenen Füßen zu stehen. Er war schlank, aber muskulös, mit langem schwarzem Haar, das zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden war, mit gebräunter Haut und spitzen Ohren. Das Blut strömte immer noch aus den vier Wunden an seinem Hals und der Kopf schaukelte, als wäre der Hals derart stark verletzt, dass er ihn nicht länger tragen konnte. Tote Augen, die einst so blau wie der Sommerhimmel gewesen waren, suchten Sylvanas. Und dann, zuerst nur langsam, begann er, sich auf sie zuzubewegen.
Vor’athil.
In diesem Augenblick spürte Sylvanas, wie das Tor unter ihr leicht erzitterte. Sie hatte sich vom Töten und Wiederbeleben derart ablenken lassen, dass ihr nicht aufgefallen war, wie Arthas’ Belagerungsmaschinen in Position gegangen waren. Die Monster, groß wie ein Oger, die aus verschiedenen Leichenteilen zusammengesetzt zu sein schienen, schlugen ebenfalls gegen das Tor. Und auch die riesigen spinnenartigen Kreaturen griffen es an.
Dann traf etwas mit einem leisen, ploppenden Geräusch die Mauer. Feuchtigkeit spritzte auf Sylvanas. Für den Bruchteil einer Sekunde weigerte sich ihr Geist zu akzeptieren, was sie gerade gesehen hatte, dann aber brach die Erkenntnis über sie herein.
Arthas erweckte die Leichen der gefallenen Elfen nicht nur. Er schleuderte ihre Körper – oder Teile davon – auch auf Sylvanas zurück.
Sylvanas schluckte schwer, dann gab sie einen Befehl, von dem sie noch vor wenigen Augenblicken niemals geglaubt hätte, ihn jemals geben zu müssen.
»Shindu fallah na! Lasst euch zum zweiten Tor zurückfallen! Zurückfallen lassen!«
Wer noch übrig geblieben war – es waren erbärmlich wenige, die zumindest noch lebten und unter ihrem Kommando kämpften –, gehorchte sofort. Die Elfen sammelten die Verwundeten ein und warfen sie sich über die Schultern. Ihre Gesichter waren bleich und schweißüberströmt und von dem Schreck ebenso gezeichnet wie auch Sylvanas selbst. Sie flohen. Es gab kein anderes Wort dafür. Es geschah nicht geordnet oder geplant. War kein taktischer Rückzug, sondern eine wilde Flucht. Sylvanas rannte mit dem Rest von ihnen davon und barg die Verwundeten, so gut es ging.
Hinter sich hörte sie den einst unvorstellbaren Klang der aufbrechenden Tore und das Gebrüll der Untoten, als sie ihren Sieg hinausschrien. Ihr eigenes Herz schien vor Schmerz zu zerspringen.
Er hatte es getan – aber wie? Wie?
Seine Stimme, stark, wohlklingend, mit diesem unterschwelligen dunklen und schrecklichen Tonfall, erhob sich über den Lärm. »Das Elfentor ist gefallen! Vorwärts, meine Krieger! Vorwärts zum Sieg!«
Irgendwie war für Sylvanas das Schrecklichste und Schlimmste an dem schadenfrohen Gejohle die… Warmherzigkeit… die da durchklang.
Sie riss einen jungen Mann an der Schulter herum, der neben ihr rannte. »Tel’kor«, rief Sylvanas. »Lauf zum Sonnenbrunnenplateau. Berichte, was hier geschehen ist. Sag ihnen – dass sie sich vorbereiten sollen.«
Tel’kor war jung genug, um bei dem Gedanken daran, nicht zu kämpfen, Enttäuschung zu zeigen. Doch er nickte einsichtig mit seinem blonden Kopf. Sylvanas zögerte.
»Milady?«
»Sagt ihnen – dass wir vielleicht verraten wurden.«
Tel’kor blickte sie an, nickte aber erneut. Flink wie ein Pfeil eilte er davon. Er war ein guter Bogenschütze, doch Sylvanas gab sich nicht der Illusion hin, dass einer mehr oder weniger einen Unterschied in der anstehenden Schlacht ausmachen würde. Doch wenn die Magier, die die Energien des Sonnenbrunnens kontrollierten und steuerten, wussten, wem sie gegenüberstanden, könnte es sehr wohl etwas ausmachen.
Die Elfen rannten jetzt nach Norden, und als ihre Truppen eine Brücke überquerten, blieb Sylvanas urplötzlich stehen, wirbelte herum und blickte zurück.
Sie keuchte. Auf Arthas und seine dunkle Armee war sie vorbereitet gewesen. Dieser Anblick allein wäre schon schlimm genug gewesen. Die Untoten, die Monstrositäten, die fliegenden fledermausähnlichen Dinger, die grotesken Spinnenwesen. Hunderte näherten sich mit unerbittlicher Entschlossenheit.
Doch damit, was dahinter kam, hatte sie nicht gerechnet.
Wie die Schleimspur einer Schnecke, wie eine Furche, die ein Pflug hinterließ, wurde das Land überall dort, wohin die Untoten ihren Fuß gesetzt hatten, schwarz und unfruchtbar. Schlimmer noch: Sylvanas erinnerte sich an den brennenden Wald, den die Orcs hinterlassen hatten, und wusste, dass die Natur sich schließlich erholen würde. Aber dies hier war eine schreckliche schwarze Linie des Todes. Als wenn die unnatürlichen Energien, die Arthas nutzte, um die Untoten voranzutreiben, die Erde selbst töten würden, auf der sie wandelten. Sie waren wie Gift, es war schwarze Magie der schlimmsten Art.
Diese Untoten mussten aufgehalten werden.
Sie war nur einen Augenblick stehen geblieben, obwohl es ihr vorkam, als würde sie schon ein ganzes Leben lang hier stehen.
»Stehen bleiben!«, rief sie, ihre Stimme klar, stark und entschlossen. »Wir werden hier gegen sie antreten.«
Die Elfen waren nur kurz verwirrt, dann verstanden sie es. Schnell erteilte Sylvanas Anweisungen und ihre Leute gehorchten. Viele von ihnen warteten. Sie waren schockiert, als sie den ersten Blick auf die schmerzliche Wunde warfen, die Sylvanas derart erschreckt hatte. Doch sie erholten sich schnell von dem Schock. Später war noch genügend Zeit, sich Gedanken um die Heilung der geschändeten Erde zu machen. Jetzt mussten sie die fürchterliche Narbe an der Ausbreitung hindern.
Der Gestank eilte der Armee voraus, doch Sylvanas und ihre Waldläufer hatten sich inzwischen auf schreckliche Weise daran gewöhnt. Er störte sie nicht mehr so, wie er es ursprünglich getan hatte.
Sie stand auf der Brücke, den Kopf hoch erhoben. Die schwarze Kapuze war ein wenig zurückgeschoben und zeigte ihr helles blondes Haar. Die Armee der Toten wurde langsamer und kam völlig zum Stillstand, verwirrt Von dem Anblick. Die hässlichen Wagen und Katapulte blieben rumpelnd stehen. Arthas’ Skelettpferd wieherte und er streichelte den knochigen Hals, als wäre es ein lebendiges Tier. Sylvanas spürte Übelkeit ob der Widernatürlichkeit, als das Ding auf die Berührung seines Herrn reagierte.
»Meine Güte«, sagte Arthas belustigt und seine Worte strahlten sogar so etwas wie Wärme aus. »Das können doch nicht die ach so imposanten Elfentore sein, über die ich so viel gehört habe.«
Sylvanas zwang sich zurückzulächeln. »Wer weiß. Zumindest werdet Ihr feststellen, dass sie eine tatsächliche Herausforderung sind.«
»Es ist nur eine einfache Brücke, Milady. Doch die Elfen sind ja schon immer versessen darauf gewesen, ihre Katzen mit Papiermähnen zu verkleiden und Löwen zu nennen.«
Sie beobachtete die Armee einen Moment lang. Ihre Wut durchdrang ihren Schild aus erzwungener Selbstsicherheit. »Ihr seid durch dieses eine Tor gekommen, Schlächter. Doch Ihr werdet nicht durch das zweite gelangen. Die inneren Tore nach Silbermond können nur mit einem speziellen Schlüssel geöffnet werden und der wird Euch niemals gehören!«