Und dann hatte die Runenklinge sie durchbohrt. Kalt, es war so kalt und das Schwert glitt durch sie hindurch, als bestünde sie aus reinem Eis.
Arthas beugte sich zu ihr vor, sein Blick war auf ihre Augen geheftet. Sylvanas hustete und feine Bluttropfen sprühten über sein bleiches Gesicht. War es nur ihre Einbildung oder gab es da eine Spur von Bedauern auf seinen immer noch feinen Gesichtszügen?
Er zog seine Waffe zurück und sie stürzte, Blut strömte aus ihr heraus. Sylvanas erschauderte auf dem kalten Steinboden. Diese Bewegung verursachte einen Schmerz, der sie förmlich zerriss. Sie presste ihre Hand auf die klaffende Wunde auf dem Bauch, was sehr dumm war, denn Hände konnten das Blut nicht aufhalten.
»Bringt es zu Ende«, flüsterte sie. »Ich verdiene… einen sauberen Tod.«
Seine Stimme kam von irgendwoher zu ihr, als sie die Augen schloss. »Nach allem, was Ihr mir angetan habt, Weib, ist ein friedlicher Tod das Letzte, was ich Euch gewähren werde.«
Einen Herzschlag lang durchfuhr sie die reine Angst, dann schwand sie wieder, so wie alles andere auch dahinschwand. Würde Arthas sie als eine seiner grotesken, taumelnden Kreaturen wiederbeleben?
»Nein«, murmelte sie und ihre Stimme klang, als käme sie von sehr weit weg. »Ihr würdet nicht… wagen…«
Und dann war es weg. Alles war weg. Die Kälte, der Gestank, der ziehende Schmerz. Es war weich und warm, dunkel, ruhig und tröstend. Doch Sylvanas verbot sich, in die willkommene Finsternis zu sinken.
Aber vielleicht konnte sie sich ja ausruhen, konnte die Arme senken, die sie so lange im Dienst für ihr Volk benutzt hatte. Und dann…
Schmerz durchfuhr sie, ein Schmerz, wie sie ihn nie zuvor erlebt hatte, und Sylvanas wusste plötzlich, dass kein physischer Schmerz, den sie jemals erlitten hatte, sich mit der Folter messen konnte, die sie jetzt durchlebte. Dies war ein Schmerz des Geistes, der Seele, die ihren leblosen Körper verließ und gefangen wurde.
Etwas riss sie von dem warmen Schutz der Stille weg. Die Brutalität dieser Tat verstärkte die schwere Folter und Sylvanas spürte, wie ein Schrei in ihrer Kehle aufstieg, der sich den Weg von tief drinnen nach draußen bahnte. Ein Schrei, von dem sie irgendwie wusste, dass er nicht mehr allein physisch war und nicht nur von ihr allein stammte. Ein Schrei, der das Blut gefrieren und Herzen stocken ließ.
Die Schwärze schwand, doch die Farben kamen nicht zurück. Sie brauchte kein Rot, Blau oder Gelb, um ihren Foltermeister zu erkennen. Er war selbst in einer farbigen Welt weiß, grau und schwarz. Die Runenklinge, die ihr das Leben genommen und ihre Seele verschlungen hatte, leuchtete und Arthas’ freie Hand war zu einer lockenden Geste erhoben, als er sie aus der beruhigenden Umarmung des Todes riss.
»Eine Banshee«, sagte er. »Das habe ich aus Euch gemacht. Ihr könnt Eure Qualen herausschreien, Sylvanas, so viel erlaube ich Euch. Das ist mehr, als die anderen bekommen haben. Doch damit sollt Ihr anderen Schmerz zufügen. Von nun an, Ihr lästige Waldläuferin, sollt Ihr mir dienen.«
Bis an den Rand des Wahnsinns getrieben und entsetzt, schwebte Sylvanas über ihrem blutigen, erschlagenen Leichnam, blickte in ihre eigenen toten Augen und dann wieder zu Arthas.
»Nein«, sagte sie, ihre Stimme klang hohl und schaurig, war aber immer noch erkennbar.»Ich werde dir niemals dienen, Schlächter.«
Er machte eine Geste. Sie war kaum zu erkennen, eher ein Zucken mit dem Finger. Ihr Rücken krümmte sich vor Schmerz, ein weiterer Schrei wurde ihr entrissen und sie erkannte betrübt, dass sie völlig machtlos war. Sie war nun sein Werkzeug, so wie die verfaulenden Leichname und die bleichen, stinkenden Monstrositäten seine Werkzeuge waren.
»Eure Waldläufer dienen mir ebenfalls«, sagte er. »Sie sind jetzt in meiner Armee.« Er zögerte und es lag ein ehrliches Bedauern in seiner Stimme, als er fortfuhr: Es hätte nicht so weit kommen müssen. Euer Schicksal, ihr Schicksal und das Eures ganzen Volkes lag allein in Euren Händen. Doch ich muss nun zum Sonnenbrunnen vorrücken. Und Ihr werdet mir dabei helfen.«
Der Hass schwoll in Sylvanas feinstofflichem Körper an, als wäre er ein lebendes Wesen. Sie schwebte neben Arthas, war sein leuchtendes neues Spielzeug. Ihren Körper hatte man auf einen der Fleischwagen geworfen. Wer wusste schon, welch krankes Ende Arthas für ihn vorgesehen hatte. Als wäre sie an ihn gebunden, war sie niemals mehr als ein paar Meter von dem Todesritter entfernt.
Und sie hörte ein Flüstern.
Zuerst hatte Sylvanas sich gefragt, ob sie in diesem neuen, abscheulichen Körper verrückt wurde. Doch schnell wurde klar, dass ihr selbst die Flucht in den Wahnsinn verstellt war. Die Stimme in ihrem Geist war zuerst unverständlich und in ihrem bemitleidenswerten Zustand wollte sie sie nicht hören. Doch bald erkannte sie, wem sie gehörte.
Arthas warf ihr Seitenblicke zu, als er unerbittlich den Marsch nach Silbermond fortsetzte. Er beobachtete sie genau. Während die Armee, der sie jetzt als Gefangene angehörte, vorwärtsdrängte und das Land zerstörte, hörte sie es plötzlich ganz deutlich: Du wirst mir zu meinem Ruhme dienen, Sylvanas. Für die Toten wirst du dich plagen. Du wirst dich nach Gehorsam verzehren. Arthas ist der erste und mir der liebste der Todesritter. Er wird für immer über dich befehligen und dir wird es gefallen.
Arthas sah, wie sie erschauderte, und er lächelte.
Sie hatte geglaubt, ihn zu hassen, als sie ihn das erste Mal vor den Toren von Quel’Thalas gesehen hatte. Als das wundersame Land dahinter immer noch rein und pur gewesen war, nichts ahnend von der tödlichen Berührung. Hatte geglaubt, ihn zu hassen, als seine Schergen ihre Leute getötet und die Toten wiederbelebt hatten, die sich in menschliche Puppen verwandelten. Hatte geglaubt, ihn zu hassen, als er sie mit einem einzigen Schlag der monströsen Runenklinge tötete… Doch all das war nichts gegen den Zorn, den sie jetzt verspürte – eine Kerze verglichen mit der Sonne, ein Flüstern im Vergleich zum Schrei einer Banshee.
Niemals, erwiderte sie der Stimme in ihrem Kopf. Er bestimmt meine Handlungen, doch Arthas kann meinen Willen nicht brechen.
Die Antwort war ein hohles, kaltes Gelächter.
Sie rückten weiter vor, an Morgenluft und dem Sanktum des Ostens vorbei. Vor den Toren von Silbermond hielten sie an. Arthas’ Stimme hätte nicht so weit reichen sollen, wie sie es tat. Doch Sylvanas wusste, dass sie in jedem Winkel der Stadt gehört wurde.
»Bürger von Silbermond! Ihr hattet ausreichend Gelegenheit, euch zu ergeben. Doch ihr habt abgelehnt. Wisset, dass heute euer ganzes Volk und euer altes Erbe enden wird. Der Tod selbst ist gekommen, um das hohe Heim der Elfen zu fordern!«
Sie, Waldläufergeneral Sylvanas Windläufer, wurde vor ihrem Volk als Beispiel vorgeführt, was geschehen würde, wenn man sich nicht ergab. Doch die Elfen taten es nicht und Sylvanas liebte sie innig dafür, selbst als sie zum Dienst für ihren dunklen Herrn gezwungen wurde.
Und so fiel sie, die leuchtende, schöne Stadt der Magie, ihr Ruhm wurde zerstört und zu Geröll reduziert, als die Armee der Untoten – die Geißel, wie Arthas sie mit verquerer Zuneigung in der Stimme genannt hatte – weiter vorrückte. Wie zuvor belebte Arthas die Gefallenen, damit sie ihm dienten. Hätte Sylvanas immer noch ein Herz besessen, wäre es spätestens beim Anblick von so vielen Freunden und geliebten Elfen gebrochen, die schließlich hirnlos und gehorsam neben ihr hertrotteten. Sie marschierten weiter durch die Stadt und teilten sie mit der abscheulichen violettschwarzen Spur in zwei Hälften auf. Die ehemaligen Bürger folgten ihnen willig mit zertrümmerten Schädeln oder heraushängenden Eingeweiden, die sie hinter sich herschleiften.
Sylvanas hatte gehofft, dass der Kanal zwischen Silbermond und Quel’Danas eine unüberwindliche Barriere bilden würde, und einen Augenblick lang schien sich diese Hoffnung zu erfüllen. Arthas zügelte sein Pferd, starrte auf das blaue Wasser, das in der Sonne glitzerte, und furchte die Stirn. Einen Moment lang saß er unbeweglich auf seinem unnatürlichen Pferd, seine weißen Brauen waren zusammengezogen. »Ihr könnt den Kanal nicht mit Leichen anfüllen, Arthas«, hatte Sylvanas hämisch gesagt. »Nicht einmal die ganze Stadt würde dazu ausreichen. Hier werdet Ihr aufgehalten und Euer Fehler ist für mich wie süße Musik.«