Sie hatten eine Armee herbeiteleportiert.
Ein ordentlicher Kampf war genau das, was er brauchte, um Jaina Prachtmeer und den Jungen, der er einst gewesen war, aus seinen Gedanken zu verdrängen.
Er hob Frostgram an, fühlte, wie es in seiner Hand prickelte, hörte, wie die sanfte Stimme des Lichkönigs seine Gedanken umschmeichelte.
»Frostgram hat Hunger«, sagte er seinen Truppen und wies mit dem Schwert auf die Angreifer der großen Magierstadt. »Lasst uns seinen Appetit stillen.«
Die Armee der Geißel stürmte heran. Sylvanas’ schmerzvolles Heulen erhob sich über das Schlachtengetümmel und ließ Arthas noch breiter Lächeln. Selbst im Tod, selbst wenn sie seine Befehle befolgte, forderte sie ihn immer noch heraus. Doch er genoss es, sie dazu zu zwingen, ihre ehemaligen Verbündeten anzugreifen. Invincible stürmte in vollem Galopp vorwärts und wieherte.
Einige der geisterhaften Truppen blieben zurück, um Kel’Thuzad zu schützen. Doch die meisten begleiteten ihren Anführer. Arthas erkannte den Wappenrock der Streitkräfte, die die Kirin Tor herbeiteleportiert hatten, um die Stadt zu verteidigen. Einst waren sie Freunde gewesen, aber das lag weit in der Vergangenheit. Es war für ihn so unwichtig wie das Wetter von gestern.
Es war jetzt leichter, die Freude zu spüren, als Frostgram sich leuchtend und singend an den Seelen labte, immer wieder zuschlug und sich durch Plattenpanzer genauso leicht wie durch Fleisch fraß.
Nachdem die erste Welle der Soldaten gefallen und wiederbelebt worden war, um fortan der Geißel zu dienen, stürmte die zweite Angriffswelle der Gegner heran. Diesmal waren Magier dabei, die in die violetten Roben von Dalaran gehüllt waren, mit dem eingestickten Symbol des großen Auges darauf. Doch auch Arthas hatte zusätzliche Hilfe bekommen.
Die Dämonen schienen die Ihren beschützen zu wollen.
Riesige Steine stürzten vom Himmel herab, ihre Schweife glühten vor grünem Teufelsfeuer. Die Erde bebte, wo sie aufschlugen, und aus den Kratern, die der Einschlag geschaffen hatte, kletterten Gestalten, die wie steinerne Golems aussahen. Sie wurden von der verderbten grünen Energie zusammengehalten und geleitet.
Arthas blickte über die Schulter. Kel’Thuzad schwebte mit ausgestreckten Armen. Sein gehörnter Kopf war zurückgeworfen. Energie knisterte und jagte aus ihm heraus und eine grüne Kugel bildete sich. Plötzlich senkte der Lich abrupt die Arme und trat aus dem Kreis heraus.
»Komme herbei, Lord Archimonde!«, rief Kel’Thuzad. »Betritt diese Welt und lass uns in deiner Macht baden!«
Die grüne Kugel pulsierte, wurde größer und leuchtete noch heller. Plötzlich schoss eine Feuersäule nach oben, und wie zur Antwort schlugen mehrere Lichtblitze außerhalb des Kreises ein. Wo vorher nichts gewesen war, stand eine Gestalt – groß, mächtig, anmutig auf ihre eigene düstere und gefährliche Weise.
Arthas wandte seine Aufmerksamkeit dem Schlachtfeld zu. Der Ruf zum Rückzug erklang – sicherlich hatten die Magier gesehen, was geschehen war. Ihre Soldaten wendeten die Pferde und flohen in die trügerische Sicherheit von Dalaran. Dabei dröhnte eine tiefe, machtvolle Stimme über den Schlachtenlärm.
»Erzittert, Sterbliche, und verzweifelt! Der Untergang ist über diese Welt gekommen!«
Arthas hielt eine Hand hoch und diese einfache Geste bedeutete den Streitkräften der Geißel, stehen zu bleiben und sich ebenfalls zurückzuziehen. Als Arthas sich Kel’Thuzad näherte und dabei die ganze Zeit den Dämonenlord beobachtete, teleportierte Tichondrius herbei. Wie üblich, nachdem die Gefahr vorbei war.
Der Schreckenslord machte eine tiefe Verbeugung. Arthas zügelte sein Pferd in einiger Entfernung und schaute nur zu.
»Lord Archimonde, alle Vorbereitungen wurden getroffen.«
»Sehr gut, Tichondrius«, antwortete Archimonde und nickte dem niederen Dämon zu. »Weil ich den Lichkönig ab sofort nicht mehr benötige, werdet ihr Schreckenslords jetzt die Geißel befehligen.«
Arthas war plötzlich sehr dankbar für die vielen Stunden, die er mit disziplinierter Meditation verbracht hatte. Nur diese Ausbildung hielt ihn davon ab, dass er Wut und Schrecken zeigte. Auch Invincible bemerkte die Änderung in ihm und tänzelte nervös. Er zog an den Zügeln und das untote Tier wurde ruhig.
Der Lichkönig wurde nicht mehr gebraucht? Warum? Wer genau war das und was war mit ihm geschehen? Was sollte aus Arthas selbst werden?
»Bald schon werde ich anordnen, dass die Invasion beginnen soll. Doch zuerst werde ich an diesen erbärmlichen Zauberern ein Exempel statuieren… indem ich ihre Stadt in den Staub der Geschichte trete.«
Der Dämon ging fort, sein Körper war hoch aufgerichtet, stolz und befehlend. Jeder stampfende Schritt seiner Hufe wirkte sicher, seine Rüstung leuchtete golden und tiefrot in der aufkommenden Dämmerung. Neben ihm, immer noch tief verneigt, ging Tichondrius. Arthas wartete, bis beide ein Stück weit weg waren, bevor er schließlich zu Kel’Thuzad herumfuhr und sagte: »Das ist doch wohl ein Scherz! Was wird denn jetzt aus uns?«
»Seid geduldig, junger Todesritter. Der Lichkönig hat das sehr wohl vorausgesehen. Ihr mögt noch eine Rolle in seinem großen Plan spielen.«
Mögt? Arthas näherte sich dem Nekromanten, seine Nasenflügel bebten, doch er hielt seine Wut zurück. Wenn jemand – egal ob Dämon oder der Lichkönig persönlich – einen Moment lang glaubte, dass Arthas nur ein Werkzeug war, das man benutzen und dann wegwerfen konnte, würde er schon bald erkennen müssen, dass er einen Fehler begangen hatte. Er hatte zu viel getan – zu viel verloren, zu viel von sich geopfert –, um einfach beiseitegeschoben zu werden.
Es konnte nicht alles umsonst gewesen sein.
Es würde nicht alles umsonst gewesen sein.
Die Erde bebte. Invincible tänzelte unbehaglich, hob seine Hufe, als wollte er den Kontakt zum Boden vermeiden. Arthas blickte zur Stadt der Magier. Die Türme waren um diese Tageszeit herrlich. Stolz und schön glitzerten sie im schwindenden Licht der Dämmerung. Doch während er noch hinsah, hörte er ein tiefes, knackendes Geräusch. Die Spitze des höchsten Turms, des schönsten Turms der Stadt, fiel langsam und unausweichlich in sich zusammen, als würde eine riesige, unsichtbare Hand sie zerquetschen.
Der Rest der Stadt stürzte schnell ein. Der Lärm der Zerstörung war laut und dröhnte in Arthas’ Ohren. Er zuckte ob der Lautstärke zusammen, wandte seinen Blick aber nicht von dem Bild der Vernichtung ab.
Er war für den Untergang von Silbermond verantwortlich. Er hatte die Geißel gegen die Elfen geführt. Doch das hier… geschah beiläufig, wie nebenbei. Silbermond hingegen war ein hart errungener Sieg gewesen. Archimonde schien die größten menschlichen Städte zerstören zu können, ohne selbst anwesend sein zu müssen.
Arthas dachte über Archimonde und Tichondrius nach. Er rieb sich gedankenverloren das Kinn.
Auf seinem Schoß leuchtete Frostgram.
21
Kel’Thuzad war eigentlich ein sehr nützlicher Lich, überlegte Arthas, als er auf dem grünen Hügel auf seine Verabredung wartete. Er war dem Lichkönig gegenüber äußerst loyal und spielte sogar brav den Schoßhund von Archimonde und Tichondrius, wenn es Arthas’ Interessen diente.
Arthas hielt sich von den Dämonen fern. Er traute sich nicht zu, so überzeugend zu lügen wie Kel’Thuzad. Die beiden Dämonen hatten ihn und Kel’Thuzad für überflüssig befunden. Doch schon bald würden sie erkennen müssen, wie falsch diese Einschätzung war. Sorglos hatten sie dem knochigen Lich sogar Medivhs Zauberbuch gelassen. Der beherrschte zudem einige andere Zauber und eine derart mächtige Magie, wie Arthas sie niemals in vollem Umfang verstehen würde.
»Der dritte Teil«, hatte Kel’Thuzad, nachdem die Dämonen fort waren, so leichthin gesagt, als würde er über das Wetter sprechen, »war das eigentliche Herzstück des Plans der Legion.«
Arthas erinnerte sich daran, was Kel’Thuzad ihm zuvor schon verraten hatte. Zuerst kam die Erschaffung der Geißel, dann die Beschwörung Archimondes. Er hörte mit gesteigertem Interesse zu, als Kel’Thuzad fortfuhr.