Sylvanas löste sich aus ihren Gedanken und kam in die Gegenwart zurück, als sie den Namen des verstorbenen Dämonenlords hörte.
»Es ist bereits Monate her, dass wir zuletzt etwas von Lord Archimonde gehört haben«, sagte Detheroc, der Anführer. Er stampfte ungeduldig mit dem Huf auf. »Ich bin es leid, auf diese verfaulenden Untoten aufzupassen. Was machen wir noch hier?«
Sie befanden sich in den ehemaligen Gärten des Palastes, die Arthas vor gar nicht allzu langer Zeit durchquert hatte, um seinen eigenen Vater zu ermorden und sein Volk dem Untergang zu weihen. Die Gärten verrotteten ebenso wie die Bevölkerung.
»Wir sollen dieses Land verwalten, Detheroc«, schalt ihn ein anderer Schreckenslord namens Balnazzar. »Es ist unsere Pflicht, hierzubleiben und sicherzustellen, dass die Geißel zum Einsatz bereit ist.«
»Das stimmt«, dröhnte ein dritter namens Varimathras. »Obwohl wir mittlerweile schon neue Befehle erhalten haben sollten.«
Sylvanas konnte kaum glauben, was sie gerade hörte, und blickte zu Kel’Thuzad. Sie verachtete den Lich ebenso sehr wie den Todesritter, dem er so pflichtbewusst diente. Doch sie verbarg ihre Abneigung gut. »Die Legion wurde bereits vor Monaten besiegt«, sagte sie leise. »Wie können sie das nicht wissen?«
»Das kann man unmöglich sagen«, antwortete der Lich. »Doch je länger sie das Kommando haben, desto mehr richten sie die Geißel zugrunde. Wenn nicht etwas…«
Er wurde von einem Geräusch unterbrochen, das Sylvanas niemals an diesem Ort erwartet hätte. Es war der markante Klang eines Tores, das eingeschlagen und aufgebrochen wurde. Beide Untote wandten sich dem Lärm zu und die Dämonen knurrten wutentbrannt. Alarmiert spannten sie die schwarzen Flügel auf.
Sylvanas leuchtende, geisterhafte Augen weiteten sich, als Arthas höchstpersönlich durch das Tor geritten kam. Sein getreues, untotes Pferd tänzelte. Er trug keinen Helm und ließ sein weißes Haar offen über sein bleiches Gesicht fallen. Dafür zeigte er dieses selbstzufriedene Lächeln, das Sylvanas so sehr hasste. Ihre feinstofflichen Hände versuchten, sich zu Fäusten zu ballen. Doch seine Macht über sie war so groß, dass die Banshee nur ein kurzes Zucken der Finger zustande brachte.
Arthas Stimme klang kraftvoll und froh. »Seid gegrüßt, werte Schreckenslords«, sagte er. Sie starrten ihn an und mussten sich sichtlich beherrschen, angesichts seiner Unverfrorenheit. »Ich sollte euch danken, weil ihr in meiner Abwesenheit so gut auf mein Königreich aufgepasst habt. Doch jetzt brauche ich eure Dienste nicht mehr.«
Eine Sekunde lang schauten sie ihn einfach nur an. Schließlich besann sich Balnazzar als Erster und sagte: »Dieses Land gehört uns. Die Geißel gehört zur Legion!«
Ah, dachte Sylvanas, jetzt fängt es an.
Arthas Lächeln wurde breiter. Seine Stimme klang schadenfroh. »Nicht mehr, Dämon. Euer Herr wurde besiegt. Die Legion ist besiegt. Eure Tode werden den Kreis schließen.«
Immer noch lächelnd hob er Frostgram an. Die Runen entlang der Klinge tanzten und leuchteten. Er zog an den Zügeln und das Skelettpferd preschte auf die drei Dämonen zu.
»Es ist noch nicht vorbei, Mensch!«, schrie Detheroc aufsässig. Die Schreckenslords waren schneller als Arthas’ Pferd. Frostgram sang vor Frustration, als er durch die leere Luft schnitt.
Die Dämonen hatten ein Portal erschaffen und flohen. Arthas blickte finster, doch schnell fand er seine gute Laune wieder. Sylvanas vermutete, dass es daran lag, weil der Tod der Schreckenslords nur noch eine Frage der Zeit war.
Arthas blickte hoch, erspähte Sylvanas und winkte sie zu sich. Sie musste ihm gehorchen. Kel’Thuzad brauchte keinen Zwang, er schwebte, wie ein gehorsamer Hund, froh an die Seite seines Herrn.
»Wir wussten, dass du zu uns zurückkehren würdest, Prinz Arthas!«, sagte der Lich begeistert.
Arthas würdigte seinen treuen Diener kaum eines Blickes. Seine Augen waren auf Sylvanas gerichtet. »Ich bin sehr gerührt«, sagte er sarkastisch. »Wusstet auch Ihr, dass ich zurückkehren würde, kleine Banshee?«
»Ja, das wusste ich«, antwortete Sylvanas kalt. Das meinte sie wirklich. Denn wenn er nicht zurückgekehrt wäre, hätte sie nie ihre Rache bekommen.
Er zuckte mit dem Finger, verlangte mehr von ihr und sie keuchte, als der Schmerz sie peinigte. »Prinz Arthas«, fügte sie hinzu.
»Ah, aber Ihr werdet mich ab sofort mit König ansprechen. Das ist immerhin mein Land. Ich wurde geboren, um es zu regieren, und das werde ich auch. Wenn erst…«
Er brach ab und sog die Luft scharf ein. Seine Augen weiteten sich und dann verzerrte sich sein Gesicht vor Schmerz. Er krümmte sich über den knochigen Hals seines Pferdes, seine gepanzerten Hände umfassten die Zügel fest. Verzweifelt stieß er einen Schmerzensschrei aus.
Sylvanas sah zu und spürte eine Freude, wie sie sie seit dem schrecklichen Tag, als Quel’Thalas gefallen war, nicht mehr erlebt hatte. Sie trank seine Qual wie Nektar. Sie wusste nicht, warum er so litt, doch sie kostete jede Sekunde davon aus.
Grunzend hob er den Kopf. Seine Augen starrten auf etwas, was sie nicht sehen konnte, und er streckte flehend eine Hand danach aus. »Der Schmerz… ist unerträglich«, knurrte Arthas durch zusammengebissene Zähne. »Was geschieht mit mir?« Er schien einer unhörbaren Stimme zu lauschen, die ihm antwortete.
»König Arthas!«, schrie Kel’Thuzad. »Braucht Ihr Hilfe?«
Arthas antwortete nicht sofort. Er schnappte nach Luft, setzte sich dann langsam auf und riss sich sichtlich zusammen. »Nein… nein, der Schmerz ist vorbei, aber… meine Kräfte… sind geschwächt.« Seine Stimme war voller Verwunderung. Hätte Sylvanas noch ein schlagendes Herz besessen, es wäre bei diesen Worten gehüpft. »Etwas läuft hier schrecklich verkehrt. Ich…«
Der Schmerz erwischte ihn erneut. Sein Körper zuckte, der Kopf fiel zurück, der Mund öffnete sich und er stieß einen geräuschlosen Schrei aus, als die Venen an seinem Hals hervortraten. Kel’Thuzad huschte wie ein besorgtes Kindermädchen um seinen verehrten Meister herum. Sylvanas beobachtete ihn nur kalt, bis die Zuckungen vorbei waren.
Langsam und vorsichtig stieg Arthas von Invincible ab. Seine Füße kamen auf den Steinfliesen auf, rutschten unter ihm weg und er stürzte schwer. Der Lich streckte seine Skeletthand aus, um dem Prinzen – dem selbst ernannten König – auf die Beine zu helfen.
»Zu meinen alten Räumen!«, keuchte Arthas. »Ich brauche Ruhe – und dann muss ich mich auf eine lange Reise vorbereiten.«
Sylvanas sah zu, wie er fortging. Er schwankte ein wenig, als er in die Richtung seiner Gemächer, in denen er aufgewachsen war, verschwand. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln…
… und ihre geisterhaften Finger zuckten einen Moment lang und ballten sich dann grimmig zu Fäusten.
Es war merkwürdig friedlich im Silberwald. Nebel wirbelten sanft über der feuchten, nadelbedeckten Erde. Sylvanas wusste, dass sie, wenn sie noch richtige Füße und alle Sinne besessen hätte, den Boden weich und federnd unter sich gespürt hätte. Dazu hätte sie den aromatischen Nadelgeruch in der feuchten Luft gerochen.
Doch sie fühlte nichts mehr, roch nichts. Sie schwebte feinstofflich zum Treffpunkt. Und sie war so begierig auf das Treffen, dass sie in diesem Augenblick nicht einmal den Verlust ihrer früheren Sinne bedauerte.
Arthas hatte es genossen, nach dem »Erfolg« mit ihr auch andere schöne, stolze und eigenwillige Frauen der Quel’dorei in Banshees zu verwandeln. Diese hatte er ihr, die im wahren Leben ihr Waldläufergeneral gewesen war, unterstellt. So hatte er ihr einen Knochen hingeworfen, als wäre sie ein treuer Hund.