Über den Schlachtenlärm hörte Arthas Balnazzars schadenfrohe Stimme. »Du hättest niemals zurückkommen dürfen, Mensch. Schwach, wie du bist, haben wir die Kontrolle über die meisten deiner Krieger übernommen. Offensichtlich war deine Herrschaft nur von sehr kurzer Dauer, König Arthas.«
Arthas biss die Zähne zusammen und von irgendwoher tief in seinem Innern strömte neue Energie hervor, neuer Kampfeswille. Er würde hier nicht sterben.
Doch es waren viele – so viele, die er einst beinahe mühelos geführt und befehligt hatte. Und sie stellten sich jetzt unerbittlich gegen ihn. Er wusste, dass sie geistlos waren, dass sie nur dem Stärksten gehorchten. Und dennoch… schmerzte es irgendwie. Er hatte sie schließlich erschaffen…
Er wurde immer schwächer und schließlich konnte er einen direkten Schlag auf seinen Bauch nicht mehr rechtzeitig abblocken. Das stumpfe Schwert schepperte gegen seine Rüstung, doch er erlitt keine größere Wunde. Aber dass der Ghoul seine Abwehr überhaupt hatte durchdringen können, alarmierte ihn.
»Es sind zu viele, mein König!«, sagte Kel’Thuzad düster. Die Loyalität, die in diesen Worten mitschwang, rührte Arthas zu Tränen. »Lauft – flieht aus der Stadt! Ich finde schon selbst heraus und treffe Euch in der Wildnis. Das ist unsere einzige Chance, mein König!«
Er wusste, dass der Lich recht hatte. Mit einem Aufschrei stieg Arthas plump aus dem Sattel. Auf einen Wink seiner Hand hin wurde Invincible feinstofflich, war nun ein Geisterpferd statt eines Skelettrosses, und verschwand. Arthas würde es erneut rufen, wenn er in Sicherheit war.
Er griff an, nahm das geschwächte Frostgram in beide Hände und schlug damit zu. Er versuchte nicht mehr, seine Gegner zu töten oder auch nur zu verletzen – es waren tatsächlich zu viele. Er wollte einfach einen Weg durch sie hindurch bahnen.
Die Tore waren geschlossen. Doch dieser Palast war der Ort, an dem er aufgewachsen war, und er kannte ihn gut. Kannte jedes Tor, jede Wand und jeden Geheimgang. Statt zu den Toren zu eilen, die er allein gar nicht öffnen konnte, drang er tiefer in den Palast ein. Die Untoten folgten ihm. Arthas rannte durch dunkle Korridore, die zu den privaten Gemächern der königlichen Familie führten. Durch die Gänge war er einst Hand in Hand mit Jaina geschritten.
Er stolperte und ihm wurde schwindelig.
Wie war er in diese Lage geraten? Er floh durch einen leeren Palast vor seinen eigenen Schöpfungen, seinen Untertanen, die zu beschützen er geschworen hatte. Doch nein – er hatte sie getötet. Er hatte seine Untertanen für die Macht, die der Lichkönig ihm versprochen hatte, verraten. Diese Macht strömte nun aus ihm wie aus einer Wunde heraus, die nicht geschlossen werden konnte.
Vater… Jaina…
Er verschloss seinen Geist gegen die Erinnerungen. Ablenkungen waren ihm nicht dienlich. Nur Tempo und List.
Die engen Gänge begrenzten die Anzahl der Untoten, die ihm folgen konnten. Außerdem konnte er die Türen schließen und blockieren und sie dadurch weiter aufhalten.
Schließlich kam er zu den Gemächern und dem Geheimausgang, der in eine Wand eingelassen war. Er, seine Eltern und Calia hatten einen Gang gehabt, von dem nur sie selbst, Uther und der Bischof wussten. Außer ihm waren nun alle fort. Arthas schob den Wandteppich beiseite, um die kleine Tür dahinter freizulegen. Er ging hindurch und blockierte sie hinter sich.
Arthas rannte und taumelte die enge Wendeltreppe hinunter, die in die Freiheit führte. Die Tür war optisch und magisch getarnt, sodass sie genauso aussah wie die Hauptmauern des Palastes. Arthas keuchte, rüttelte am Schloss und stürzte in das schwache Licht von Tirisfal hinaus. Der Kampfeslärm erreichte seine Ohren. Er blickte auf und schnappte nach Luft. Er blinzelte, war verwirrt. Die Untoten… bekämpften einander.
Natürlich – einige von ihnen standen immer noch unter seinem Kommando. Waren immer noch seine Untertanen…
Seine Werkzeuge. Seine Waffen. Doch nicht seine Untertanen.
Er beobachtete sie einen Augenblick lang und lehnte sich dann gegen den kalten Stein. Eine Monstrosität unter der Kontrolle des Feindes riss einen langohrigen Kopf ab und schmiss ihn weg. Ekel ergriff Arthas beim Anblick der beiden untoten Parteien. Es waren verfaulende, madenverseuchte Wesen. Egal, wer sie auch kontrollierte, sie waren widerlich.
Plötzlich erblickte er einen Schimmer. Ein einsamer kleiner Geist, der einst ein halbwüchsiges Mädchen gewesen war, schwebte ängstlich vor ihm. Er hatte auch dieses Kind getötet, egal, ob nun direkt oder indirekt. Es gehörte zu seinen Untertanen. Dennoch schien es immer noch mit der Welt der Lebenden verbunden zu sein. Schien sich zu erinnern, was es einst bedeutet hatte, ein Mensch zu sein. Das konnte er ausnutzen. Er strecke die Hand zu dem schwebenden Geist aus, in den er das Mädchen aus Machtgier verwandelt hatte.
»Ich brauche deine Hilfe, kleiner Schatten«, sagte er und hob dabei seine Stimme an, um so freundlich wie möglich zu klingen. »Wirst du mich unterstützen?«
Ihr Gesicht erhellte sich und sie schwebte an seine Seite. »Ich lebe nur, um Euch zu dienen, König Arthas«, sagte sie. Ihre Stimme klang immer noch süß, trotz des hohlen Echos.
Er zwang sich zurückzulächeln. Es war leichter, wenn sie einfach nur verfaulendes Fleisch waren. Doch diese Methode hatte auch ihre Vorteile.
Durch reine Willenskraft rief er immer mehr Untote. Dabei strengte er sich derart an, dass er keuchte. Und sie kamen. Die wandelnden Toten würden dem Stärkeren dienen. Brüllend stürzte sich Arthas auf alle, die es wagten, sich seiner Bestimmung in den Weg zu stellen, für die er so teuer bezahlt hatte. Doch selbst als sich einige Untote an seiner Seite sammelten, erschienen andere, um ihn anzugreifen. Er war so schwach und hatte nur diese wandelnden Fleischklumpen, die ihn beschützten.
Arthas zitterte und keuchte, hob Frostgram mit Armen, die immer mehr ermatteten. Plötzlich bebte der Boden. Arthas wirbelte herum und sah drei Monstrositäten, die auf ihn zutaumelten.
Grimmig hob er Frostgram. Er, Arthas Menethil, König von Lordaeron, würde nicht kampflos fallen.
Plötzlich nahm er eine huschende Bewegung wahr und hörte schmerzerfüllte Schreie. Wie die Geister von Vögeln stürzten sich die Neuankömmlinge auf die Monstrositäten, die in ihrem Angriff auf Arthas innehielten und brüllend nach den geisterhaften Gestalten schlugen, während diese einfach in sie einzudringen schienen.
Die schleimigen weißen, madenhaften Kreaturen verharrten einen Augenblick und dann wandten sie sich gegen die wankenden Ghoule, die Arthas angriffen. Ein Lächeln breitete sich über das bleiche Gesicht des Todesritters aus. Dahinter steckten die Banshees. Er hatte vermutet, dass Sylvanas ihn zu sehr hasste, um ihm zu helfen, oder dass sie, wie so viele seiner Krieger, zum Feind übergelaufen war.
Doch scheinbar hatte der ehemalige Waldläufergeneral seinen Hass verdrängt.
Mithilfe der von den Banshees besessenen Monstrositäten wandte sich das Schlachtenglück und wenig später stand Arthas, von einer plötzlichen Schwäche durchdrungen, über einem Haufen Leichen, die wirklich tot waren. Die Monstrositäten griffen einander an und zerfetzten sich gegenseitig. Arthas fragte sich, ob ihre Schöpfer jemals wieder zusammennähen konnten, was von ihnen übrig geblieben war. Als sie zu Boden stürzten, wurden die Geister, die von ihnen Besitz ergriffen hatten, freigesetzt.