Kel’Thuzad neigte den gehörnten Kopf. »Ich bin dankbar, dass ich Euch helfen konnte, mein König. Doch Ihr müsst schnellstens fort von hier, nach Nordend. Alle Vorbereitungen für die Reise wurden bereits getroffen. Braucht Ihr sonst noch etwas von mir?«
Kel’Thuzad hatte recht gehabt. Schon spürte Arthas, wie das Leben in seine Glieder zurückkehrte. Es reichte aber noch nicht aus, dass er aus eigener Kraft gehen konnte.
»Ich muss so schnell wie möglich den Lichkönig finden. Wenn noch mehr Zeit vergeht… Ich weiß nicht, was die Zukunft noch alles bereithält oder ob ich jemals zurückkomme. Doch ich möchte, dass du über dieses Land wachst. Kümmere dich darum, dass mein Erbe überdauert.«
Er vertraute dem Lich, nicht aus Zuneigung oder Loyalität, sondern aus kalter, harter Notwendigkeit. Kel’Thuzad war ein Untoter, an einen Herrn gebunden, dem sie beide dienten. Arthas’ Augen huschten zu dem kleinen Geist, der in seiner Nähe schwebte, und er lächelte. Dann blickte er zu den schlaffgesichtigen, verfaulenden Leichen, die ohne zu zögern über eine Klippe gesprungen wären, wenn er es ihnen befohlen hätte.
Sie waren nur totes Fleisch und stumpfe Geister. Keine Untertanen. Und sie waren es auch nie gewesen. Egal, was das Lächeln des kleinen Schattens auch verhieß.
»Ihr ehrt mich, mein Herr. Ich werde tun, was Ihr verlangt, König Arthas. Das werde ich.«
Sie hatte nun einen Körper, wie sie ihn einstmals ihr Eigen nannte, auch wenn er natürlich verändert war – so wie sie verändert worden war. Sylvanas bewegte sich mit demselben leichtfüßigen Schritt, den sie auch zu Lebzeiten hatte, und trug dieselbe Rüstung. Doch es war nicht dasselbe. Sie war für immer und unwiderruflich verändert.
»Ihr wirkt besorgt, Herrin.«
Sylvanas kam aus ihren Gedanken zurück und wandte sich der Banshee zu. Sie war eine von vielen. Sylvanas hätte ebenfalls leicht dahinschweben können, doch sie bevorzugte die Schwere der körperlichen Gestalt, die sie sich selbst zurückgestohlen hatte.
»Seid Ihr es nicht, Schwester?«, erwiderte sie knapp. »Erst vor ein paar Tagen waren wir noch die Sklaven des Lichkönigs. Wir existierten nur, um in seinem Namen zu töten. Und jetzt sind wir… frei.«
»Ich verstehe nicht, Herrin.« Die Stimme der Banshee klang hohl und verwirrt. »Unsere Willen gehören nun uns selbst. Habt Ihr nicht dafür gekämpft? Ich dachte, Ihr wärt überglücklich.«
Sylvanas lachte und war sich bewusst, dass sie gefährlich nah der Hysterie war. »Welche Freude läge in diesem Fluch? Wir sind immer noch untot, Schwester – immer noch Monstrositäten.« Sie streckte eine Hand aus, untersuchte das blaugraue Fleisch und bemerkte die Kälte, die sie wie eine zweite Haut umgab. »Was anderes sind wir, wenn nicht Sklaven dieser Folter?«
Arthas hatte so viel genommen. Selbst wenn sie seinen Tod in die Länge gezogen hätte, über einen Zeitraum von Tagen… Wochen… wäre es ihr doch nicht gelungen, Arthas angemessen leiden zu lassen. Sein Tod würde die Toten nicht zurückbringen, den Sonnenbrunnen nicht reinigen oder ihr einst helles Gemüt retten.
Doch es würde sich gut anfühlen… sehr gut.
Er war ihrer Falle bereits vor mehreren Tagen entkommen. Sein Lakai, der Lich, war genau im falschen Augenblick aufgetaucht. Arthas befand sich nun nicht mehr in ihrer Reichweite und versuchte, sich selbst zu heilen. Sie hatte erfahren, dass er Kel’Thuzad das Kommando über die verseuchten Länder gegeben hatte. Doch das war in Ordnung. Sie war tot. Sie hatte alle Zeit der Welt, um eine ausgefeilte Rache zu planen.
Aus den Augenwinkeln erspähte sie eine Bewegung und sie erhob sich anmutig, spannte den Bogen und legte traumwandlerisch sicher einen Pfeil auf. Das Portal öffnete sich und Varimathras stand dort und lächelte sie gönnerhaft an.
»Seid gegrüßt, Lady Sylvanas.« Der Dämon verneigte sich tatsächlich vor ihr. Sylvanas hob eine Augenbraue. Sie glaubte nicht einen Moment lang, dass er es ernst meinte. »Meine Brüder und ich wissen die Rolle zu würdigen, die Ihr beim Sturz von Arthas gespielt habt.«
Die Rolle, die sie gespielt hatte. Als wäre es eine Art von Theaterstück gewesen.
»Sturz? Ich vermute, so könnte man es nennen. Er ist geflohen, so viel steht fest.«
Das mächtige Wesen zuckte die Achseln, seine Flügel breiteten sich bei der Geste aus. »Wie auch immer. Er wird uns keine Schwierigkeiten mehr machen. Ich bin hier, um Euch eine förmliche Einladung zu überbringen, unserem neuen Bund beizutreten.«
Ein »neuer Bund«. Das war nichts wirklich Neues, überlegte sie. Dasselbe Joch, nur neue Herren. Sie hätte kaum weniger interessiert sein können.
»Varimathras«, sagte sie kalt. Sie verneigte sich nicht vor ihm. »Mein einziger Wunsch ist, Arthas zu töten. Nachdem ich bei meinem ersten Versuch versagt habe, werde ich nun meine Anstrengungen darauf konzentrieren, es beim nächsten Mal zu schaffen. Ich habe keine Zeit für belanglose Machtspielchen.«
Der Dämon beherrschte sich merklich. »Seid vorsichtig, Milady. Es wäre unklug, unseren Zorn zu wecken. Wir sind die Zukunft dieser… Pestländer. Ihr könnt Euch uns entweder anschließen oder beiseitegedrängt werden.«
»Ihr? Die Zukunft? Kel’Thuzad ist nicht mit Arthas fortgegangen. Er wurde aus einem Grund hier zurückgelassen. Doch vielleicht ist ein Lich, der aus der Essenz des mächtigen Sonnenbrunnens wiedergeboren wurde, nichts für Wesen, die so machtvoll wie Ihr seid.« Ihre Stimme troff vor Zorn und der Schreckenslord runzelte die Stirn.
»Ich habe lange genug als Sklave gelebt, Schreckenslord.« Es war nicht ohne Komik, jemanden das Wort »gelebt« benutzen zu hören, der eigentlich tot war. Alte Angewohnheiten starben nur langsam, so schien es. »Ich habe mich mit Zähnen und Klauen gewehrt, um etwas Besseres zu werden als das, was dieser Bastard aus mir gemacht hat. Nun habe ich meinen eigenen Willen und ich gehe meinen eigenen Weg. Ihr seid die letzten kümmerlichen Überreste Eures Volkes. Ihr seid eine aussterbende Art. Ich werde meine Freiheit nicht aufgeben, indem ich mich an Euch Narren kette.«
»So sei es«, zischte Varimathras. Er war wütend. »Unsere Antwort wird schon bald kommen.«
Er teleportierte sich weg, sein Gesicht war finster verzerrt.
Ihre Spitze hatte ihn getroffen und er bebte vor Wut, wie sie für sich vermerkte. Man konnte ihn leicht wütend machen. Man hatte den Dämon zu ihr geschickt, weil man sie für keine große Gefahr hielt.
Sylvanas würde mehr als eine Handvoll Banshees benötigen, um Arthas zu bekämpfen. Sie würde eine Armee brauchen, eine Stadt der Toten… sie würde Lordaeron brauchen.
Sie würde die Seelen, die wie sie nicht mehr atmeten, aber dennoch ihren eigenen Willen hatten, die Verlassenen nennen. Und ebenso schnell brauchte sie mehr geisterhafte Schwestern, um die drei dämonischen Brüder zu bekämpfen.
Oder vielleicht musste sie sich nur gegen zwei von ihnen stellen.
Sylvanas Windläufer überlegte erneut, wie leicht Varimathras manipuliert werden konnte.
Vielleicht war er ja noch nützlich… Ja. Sie und die Verlassenen würden ihren Weg in dieser Welt gehen… und jeden töten, der sich ihnen dabei in den Weg stellte.
23
Nordend. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Als würde man heimkehren.
Kaum dass die Küste in Sicht kam, erinnerte sich Arthas daran, wie er das erste Mal hergekommen war. Sein Herz war voller Schmerz gewesen wegen Jainas und Uthers Verrat, Schmerz wegen der Notwendigkeit des Massakers bei Stratholme. So viel war seitdem passiert, dass es sich anfühlte, als läge es ein ganzes Leben lang zurück.
Er war damals mit Rache im Herzen gekommen, um den Dämonenlord zu töten, der sein Volk in lebende Tote verwandelt hatte. Jetzt beherrschte er selbst die wandelnden Toten und war mit Kel’Thuzad verbündet.
Die Wege des Schicksals waren unergründlich.
Er spürte die Kälte nicht, wie er es damals getan hatte. Und ebenso erging es den Männern, die ihm so loyal folgten. Der Tod betäubte derartige Gefühle. Nur in den menschlichen Nekromanten sträubte sich alles gegen den eisigen, seufzenden Wind und den Schnee, der träge fiel, als sie Anker warfen und anlegten.