Und dann galoppierte Invincible.
Besser gesagt, er flog. Zumindest erschien es dem übermütigen jungen Prinzen so, der sich eng an den Hals des Pferdes presste und breit lächelte. Er war noch nie auf einem derart schnellen Tier geritten und sein Herz hämmerte vor Erregung. Er versuchte nicht einmal, Invincible zu kontrollieren, er konnte nur hoffen, im Sattel zu bleiben. Es war herrlich, wild, schön – alles, wovon er je geträumt hatte. Sie würden…
Bevor er begriff, was geschah, flog Arthas durch die Luft und landete hart auf dem grasbedeckten Boden. Für einen langen Moment konnte Arthas durch den Aufprall nicht atmen. Langsam kam er wieder auf die Beine. Sein Körper schmerzte, aber er hatte sich nichts gebrochen.
Doch Invincible verschwand schnell in der Ferne. Arthas fluchte lautstark, trat gegen einen Erdklumpen und ballte die Hände zu Fäusten. Für den Moment hatte er genug.
Bei seiner Rückkehr wartete Sire Uther auf ihn. Arthas verzog das Gesicht, als er von Trueheart abstieg und die Zügel einem Stallknecht gab.
»Invincible ist vor Kurzem allein zurückgekommen. Er hatte einen bösen Schnitt am Bein, doch Ihr könnt Euch freuen, der Stallmeister meint, es gehe ihm gut.«
Arthas überlegte, ob er lügen und Uther erzählen sollte, dass sie herumgeritten waren und Invincible weggelaufen sei. Doch durch die Grasflecken auf seiner Kleidung war es offensichtlich, dass er gestürzt war, und Uther würde niemals glauben, dass ein Prinz sich nicht auf dem gutmütigen, alten Trueheart halten konnte.
»Ihr wisst doch, dass Ihr ihn noch nicht reiten sollt,« fuhr Uther unerbittlich fort.
Arthas seufzte. »Ich weiß.«
»Arthas, versteht Ihr nicht? Wenn Ihr ihn in diesem Alter zu sehr belastet, wird er…«
»Ich habe es verstanden, ja? Ich hätte ihn zum Krüppel machen können. Es war nur dieses eine Mal.«
»Und dabei bleibt es auch?«
»Ja, Sire«, erwiderte Arthas mürrisch.
»Ihr habt Euren Unterricht verpasst. Wieder einmal.«
Arthas war still und blickte Uther nicht an. Er war wütend, beleidigt und verletzt und wünschte sich nichts sehnlicher, als ein heißes Bad und etwas Wilddornrosentee, um seine Schmerzen zu lindern. Sein rechtes Knie begann bereits anzuschwellen.
»Immerhin seid Ihr rechtzeitig zur nachmittäglichen Gebetsstunde zurück.« Uther musterte ihn von oben bis unten. »Obwohl Ihr Euch noch waschen müsst.«
Arthas war tatsächlich verschwitzt und wusste, dass er extrem nach Pferd stank. Es war ein guter Geruch, fand er. Ein ehrlicher.
»Beeilt Euch. Wir treffen uns in der Kapelle.«
Arthas wusste nicht einmal, worum es in der heutigen Gebetsstunde ging. Er fühlte sich ein wenig schlecht deshalb. Das Licht war sowohl seinem Vater als auch Uther wichtig, und er wusste, wie sehr sich beide wünschten, dass er diese Hingabe teilte. Doch obwohl er die Existenz des Lichts nicht bestreiten konnte – es war zweifellos da, er hatte gesehen, wie Priester und die Paladine des neuen Ordens wahre Wunder der Heilung und des Schutzes gewirkt hatten –, verspürte er nicht den Drang, stundenlang zu meditieren, wie Uther es tat. Oder ehrfürchtig zu beten wie sein Vater. Das Licht war eben einfach… da.
Eine Stunde später, gewaschen und in eleganter Kleidung, eilte Arthas zur kleinen Familienkapelle im königlichen Schlossflügel.
Der Raum war nicht sonderlich groß, doch er war schön. Es war die verkleinerte Version einer traditionellen Kapelle, die man in jeder Stadt der Menschen fand, vielleicht ein wenig großzügiger ausgestattet, was die Details anging. Der Kelch, den man sich teilte, war aus feinem Gold gearbeitet und mit Edelsteinen besetzt. Er stand auf einem antiken Tisch. Selbst die Bänke waren weich gepolstert, während das gemeine Volk auf hartem Holz sitzen musste.
Beim Eintreten erkannte er, dass er der Letzte war – und zuckte zusammen, als ihm einfiel, dass mehrere wichtige Persönlichkeiten seinen Vater besuchten. Neben den üblichen Teilnehmern seiner Familie, Uther und Muradin – war auch König Trollbann anwesend, obwohl der noch unglücklicher wirkte als Arthas.
Und da war… noch jemand, ein Mädchen, schlank und aufrecht, mit langem blondem Haar, das ihm den Rücken zuwandte. Arthas blickte sie neugierig an und stieß gegen eine der Bänke.
Er hätte genauso gut einen Teller fallen lassen können. Königin Lianne, auch mit Anfang fünfzig noch eine Schönheit, wandte sich bei dem Geräusch um und lächelte ihren Sohn liebevoll an. Ihr Gewand war perfekt arrangiert. Ihr Haar wurde von einem goldenen Reif zurückgehalten, von dem keine einzige Haarsträhne abstand. Calia war vierzehn und wirkte so schlaksig und verspielt, wie Invincible am Tag seiner Geburt gewesen war. Sie warf ihm einen düsteren Blick zu. Offensichtlich waren seine Missetaten schon bis hierher vorgedrungen – oder sie war wütend, weil er zu spät kam. Terenas nickte ihm zu, dann konzentrierte er sich wieder auf den Bischof, der die Messe zelebrierte. Arthas erschauderte angesichts des stummen Missfallens in dem Blick. Trollbann achtete nicht auf ihn, und Muradin drehte sich ebenfalls nicht um.
Arthas setzte sich auf eine der Bänke, die entlang der Wand standen. Der Bischof begann zu reden und hob die Hände, die von einem sanften weißen Leuchten umgeben waren. Arthas wünschte sich, dass sich das Mädchen umdrehen würde, damit er sein Gesicht sehen konnte. Wer war sie? Offensichtlich die Tochter eines Adeligen oder jemand von hohem Rang, sonst wäre sie wohl nicht eingeladen worden, am Gebet der Familie teilzunehmen. Er überlegte, wer sie sein konnte. Dabei interessierte er sich mehr für sie als für die Messe.
»… und seine königliche Hoheit, Arthas Menethil«, sprach der Bischof. Arthas richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Gottesdienst und fragte sich, ob er etwas Wichtiges versäumt hatte. »Möge das Licht all seine Gedanken, Worte und Taten segnen, damit er sich wohl entwickle und er ihm als Paladin dienen möge.«
Arthas spürte, wie ihn plötzlich eine beruhigende Wärme durchfloss, als der Segen auf ihn gesprochen wurde. Die Steifheit und die Schmerzen verschwanden und er war erfrischt und friedvoll.
Der Bischof wandte sich der Königin und der Prinzessin zu. »Möge das Licht auf ihre königliche Majestät, Lianne Menethil scheinen, damit sie…«
Arthas lächelte und wartete darauf, dass der Bischof mit den persönlichen Segnungen zum Ende kam. Dann würde er das Mädchen beim Namen nennen. Arthas lehnte sich gegen die Mauer.
»Und demütig erbitten wir den Segen des Lichts für Lady Jaina Prachtmeer. Möge sie gesegnet sein mit seinem Heil und seiner Weisheit, die sie…«
Aha! Das rätselhafte Mädchen war nicht länger rätselhaft. Jaina Prachtmeer, ein Jahr jünger als er, die Tochter von Admiral Daelin Prachtmeer, dem Seekriegshelden und Herrscher über Kul Tiras. Warum war sie hier?
»… und dass ihre Studien in Dalaran gut verlaufen. Möge sie eine Abgesandte des Lichts werden und ihrem Volk als Magierin gut und wahrhaftig dienen.«
Das klang logisch. Sie war auf dem Weg nach Dalaran, der schönen Stadt der Magier, die nicht weit von der Hauptstadt entfernt lag. Aufgrund der strengen Regeln der Etikette und Gastfreundschaft in königlichen und adeligen Kreisen war sie ein paar Tage zu Besuch, bevor sie weiterreiste.
Das, überlegte er, könnte spaßig werden.
Am Ende der Messe ging Arthas, der sich ohnehin schon nahe der Tür befand, als Erster hinaus. Muradin und Trollbann kamen nach, beide wirkten erleichtert, dass die Messe vorbei war. Terenas, Uther, Lianne, Calia und Jaina folgten.
Sowohl seine Schwester als auch das Prachtmeer-Mädchen waren beide blond und schlank. Doch damit hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Calia war feingliedrig, mit einem Gesicht wie auf den alten Gemälden und weicher, blasser Haut. Jaina dagegen hatte leuchtende Augen und ein lebhaftes Lächeln, und sie bewegte sich wie jemand, der es gewöhnt war, zu reiten und zu wandern. Sie verbrachte offensichtlich einen großen Teil ihrer Zeit im Freien, weil ihr Gesicht gebräunt war und sie Sommersprossen auf der Nase hatte.