»Arthas Menethil.«
Der Elf benutzte Arthas’ Titel nicht, offenbar, um ihn zu demütigen. Doch Arthas ließ sich davon nicht beeindrucken. Er wusste gut genug, wer er war, und bald würde dieses hübsche Prinzchen es auch wissen.
»Ich würde allein beim Gedanken an Euren Namen ausspucken. Doch Ihr seid selbst das nicht wert.«
»Ah, Kael«, sagte Arthas lächelnd. »Selbst Eure Beleidigungen sind unnötig kompliziert. Schön, dass Ihr Euch nicht geändert habt – so uneffektiv wie immer. Das bringt mich zu einer Frage: Warum wart Ihr eigentlich nicht in Quel’Thalas? Hat es Euch gereicht, dass andere für Euch starben, während Ihr sicher und geborgen in Eurer violetten Zitadelle gesessen habt? Ich glaube, das tut Ihr jetzt nicht mehr.«
Kael’thas presste die Lippen aufeinander, seine Augen zogen sich zusammen. »So viel will ich Euch sagen. Ich hätte dort sein sollen. Doch ich habe stattdessen versucht, den Menschen dabei zu helfen, die Geißel zu bekämpfen – die Geißel, die Ihr auf Euer eigenes Volk gehetzt habt. Ihr mögt Euch um Eure Untertanen nicht sorgen, doch ich sorge mich um meine. Ich habe viel zu viel dabei verloren, als ich den Menschen half. Ich stehe jetzt nur noch für die Elfen. Für die Sin’dorei – die Kinder des Blutes. Ihr werdet dafür bezahlen, Arthas. Ihr werdet teuer bezahlen für das, was Ihr uns angetan habt!«
»Wisst Ihr, beinahe genieße ich dieses Geplänkel. Es ist lange her, nicht wahr? Ich habe Euch nicht mehr gesehen, seit…« Er ließ den Satz ausklingen und sah, dass ein Muskel am Auge des Prinzen zuckte. Ja, Kael’thas erinnerte sich daran. Erinnerte sich daran, wie er Jaina und Arthas bei ihrem innigen Kuss überrascht hatte. Diese Erinnerung erschreckte Arthas jedoch selbst und die Genugtuung, die er daraus zog, dass er Kael’thas quälte, schwand. »Dennoch bin ich von Euren Elfen enttäuscht. Ich hatte auf einen besseren Kampf gehofft. Vielleicht habe ich alle schlauen Elfen bereits in Quel’Thalas getötet?«
Kael schluckte den Köder nicht. »Was Euch hier gegenübergetreten ist, war nur eine Gruppe von Kundschaftern. Keine Angst, Arthas, in Kürze bekommt Ihr Eure Herausforderung. Ich versichere Euch, dass es Euch deutlich schwerer fallen wird, Lord Illidans Armee zu besiegen.« Die vollen Lippen des Prinzen verzogen sich vor Freude, als Arthas bei dem Namen aufhorchte.
»Illidan? Er steckt hinter dieser Invasion?« Verdammt. Es wäre besser gewesen, wenn er Tichondrius selbst getötet hätte, statt die Kaldorei darin zu verwickeln. Er hatte gewusst, dass Illidan machthungrig war. Doch er hatte nicht geglaubt, dass der Nachtelf sich zu so einer großen Gefahr entwickeln würde.
»Das stimmt. Unsere Streitkräfte sind zahlreich, Arthas.« Die seidige Stimme triumphierte vor Freude. Der Bastard genoss dies wirklich. »In diesem Augenblick marschieren sie auf den Eiskronengletscher zu. Ihr werdet niemals rechtzeitig dort eintreffen, um Euren Lichkönig zu retten. Betrachtet das als den Preis für Quel’Thalas… und einige andere Beleidigungen.«
»Andere Beleidigungen«, lächelte Arthas. »Vielleicht wollt Ihr Details über diese anderen Beleidigungen hören. Soll ich Euch verraten, wie es war, sie in meinen Armen zu halten, zu hören, wie sie meinen…«
Diesmal war der Schmerz schlimmer als zuvor.
Arthas stürzte auf die Knie. Sein Blick wurde rot. Wieder sah er den Lichkönig – Ner’zhul hatte Anub’arak ihn genannt –, der in seinem eisigen Gefängnis gefangen war.
»Beeil dich!«, schrie der Lichkönig. »Meine Feinde kommen immer näher! Unsere Zeit ist beinahe abgelaufen!«
»Geht es Euch gut, Todesritter?«
Arthas blinzelte und stellte fest, dass er direkt in Anub’araks Gesicht – oder wie man es sonst nennen sollte – blickte. Ein langes spinnenartiges Bein war zu ihm ausgestreckt und bot ihm Hilfe an. Er zögerte, doch er war zu schwach, um alleine aufzustehen. Er riss sich zusammen, nahm das Bein an und erhob sich. Es fühlte sich wie ein Stock in seiner Hand an, trocken und beinahe mumifiziert. Sobald er selbst stehen konnte, ließ Arthas wieder los.
»Meine Kräfte werden schwächer, doch mir geht es gut.« Er atmete tief ein, um sich zu beruhigen, und sah sich um. »Wo ist Kael’thas?«
»Fort.« Die Stimme war kalt wie Stein. Unmut schwang darin. »Er hat seine Magie benutzt, um sich fortzuteleportieren, bevor wir ihn in Stücke reißen konnten.«
Wieder der feige Magiertrick der Teleportation. Wenn nur Arthas’ Nekromanten ihn auch beherrscht hätten, dann wäre der Lichkönig nicht mehr in Gefahr.
Arthas rief die anderen Leichname zusammen und erkannte, dass sie tatsächlich Kael’thas Untergang gewesen wären.
»Ich gebe es ungern zu«, begann er, »doch der verdammte Elf hatte recht.« Er wandte sich an seinen furchterregenden Verbündeten. »Anub’arak, ich hatte eine weitere Vision. Der Lichkönig ist in akuter Gefahr. Die Feinde – Illidan und Kael’thas – nähern sich ihm. Wir werden den Gletscher niemals rechtzeitig erreichen!«
Ich habe versagt…
Anub’arak schien das nicht im Geringsten zu stören. »Über Land vielleicht nicht«, stimmte ihm die riesige Kreatur zu. »Es ist ein langer und beschwerlicher Weg. Doch… da gibt es einen anderen Weg, den wir nehmen könnten, Todesritter. Das alte untergegangene Königreich von Azjol-Nerub liegt tief unter uns. Dort habe ich einst viele Jahre lang geherrscht. Obwohl es in dunklen Tagen gefallen ist, könnte es als Abkürzung zum Gletscher nützen.«
Arthas blickte auf. Auf dem Luftweg, den ein Rabe nehmen würde, war der Weg nicht so lang. Doch über das Eis und die Berge, die sich vor ihm auftürmten…
»Seid Ihr Euch sicher, dass wir den Gletscher durch diese Tunnel erreichen können?«, fragte er.
»Nichts ist sicher, Todesritter.« Einen Augenblick lang wirkte es so, als würde der Neruber lächeln. »Die Ruinen sind gefährlich. Doch es ist das Risiko wert.«
In dunklen Zeiten gefallen. Ein merkwürdiger Ausdruck für einen alten, toten Spinnenherrscher. Arthas fragte sich, was das wohl bedeutete.
Er vermutete, dass er es bald herausfinden würde.
Anub’arak und seine Untertanen legten ein scharfes Tempo vor und eilten nach Norden. Arthas und seine Geißelkrieger schlossen sich ihnen an und bald schon hatten sie den Ozean hinter sich zurückgelassen. Die niedrig stehende Sonne bewegte sich schnell über den fahlen Himmel. Die lange Nacht kam. Während sie weitermarschierten, schickte Arthas einige seiner Krieger aus, um Äste einzusammeln. Sie würden als Fackeln auf ihrem Weg durch das gefährliche unterirdische Königreich dienen.
Nach mehreren Stunden eines quälend langsamen Vorwärtskommens – die Untoten konnten die Kälte nicht wirklich spüren, doch der Wind und der Schnee verlangsamten sie dennoch – wusste Arthas, dass trotz Anub’araks fast ironischen Worten eine Sache tatsächlich verstand: Er hätte es niemals rechtzeitig geschafft, den Lichkönig zu retten – und so letztlich sich selbst –, wenn er über das offene Land gezogen wäre. Im Prinzip war es der reine Selbsterhalt, der ihn so hart antrieb. Der Lichkönig hatte ihn gefunden und zu dem gemacht, was er jetzt war. Er hatte ihm große Macht gegeben. Arthas wusste und schätzte es, doch seine Sorge um den Lichkönig hatte nichts mit Loyalität zu tun. Wenn dieses große Wesen getötet wurde, dann würde zweifelsfrei Arthas als Nächster sterben. Doch er wollte, wie er es bereits Uther gesagt hatte, für immer leben.
Schließlich erreichten sie die Tore. Sie waren derart von Eis und Schnee bedeckt, dass Arthas sie nicht sofort als solche erkannte. Doch Anub’arak blieb stehen, bäumte sich auf, spreizte zwei seiner acht Beine weit und zeigte, was vor ihnen lag.
Gekrümmte Steine, die wie Sicheln aussahen – oder Insektenbeine, überlegte Arthas – standen nach oben vor. Ihre Spitzen ragten aufeinander zu und bildeten eine Art Tunnel. Vor ihnen konnte er die Tore selbst erkennen. Eine riesige Spinne war darauf eingraviert. Arthas Lippen verzogen sich vor Ekel, doch dann dachte er an die Statuen, die über Sturmwind verteilt waren. War das wirklich so anders? Der »Eingangstunnel« und die Tore führten in das Herz dessen, was ein Eisberg zu sein schien. Einen Moment lang, nur einen einzigen Moment, blickte Arthas auf die stumme, riesige Gestalt von Anub’arak, dachte an Spinnen und Fliegen und fragte sich, ob er das Richtige tat.