Er kletterte höher, sein Blick war auf die Spitze gerichtet. Auf das große Stück blauen Eises, das denjenigen einsperrte, der Arthas Fuß zuerst auf diesen Pfad gelenkt hatte. Immer näher zog es ihn heran, bis Arthas ein paar Meter davor stehen blieb. Lange betrachtete er die teilweise verborgene Gestalt, die darin gefangen war. Nebel stieg von dem großen Eisblock auf und verhüllte das Bild auch weiterhin.
Frostgram leuchtete in seiner Hand. Tief aus dem Innern trat ein schwaches Leuchten von zwei Punkten strahlend blauen Lichts.
»BRINGE DIE KLINGE ZURÜCK«, erklang eine tiefe, kratzende Stimme in Arthas’ Geist. Sie war fast unerträglich laut. »SCHLIESSE DEN KREIS. BEFREIE MICH AUS DIESEM GEFÄNGNIS!«
Arthas trat einen Schritt vor, dann einen weiteren. Er hob Frostgram an, dabei wurde er schneller, bis er rannte. Dies war der Augenblick, auf den alles hinausgelaufen war, und ohne es zu merken, brüllte er, als er mit aller Kraft zuschlug.
Ein lautes Knacken erschütterte den Saal, als Frostgram traf. Das Eis zersprang, große Stücke flogen in alle Richtungen davon. Arthas hob die Arme, um sich selbst zu schützen, doch die Splitter flogen harmlos an ihm vorbei.
Das Eis gab den gefangenen Körper frei, der Lichkönig schrie und reckte seine Arme zum Himmel. Weitere ächzende, knackende Geräusche drangen aus der Höhle, teilweise stammten sie auch von dem Wesen selbst. Sie waren so laut, dass Arthas wimmerte und seine Ohren bedeckte. Es war, als würde die Welt selbst entzwei gerissen.
Plötzlich schien die Gestalt des Lichkönigs genauso zu zerspringen wie sein Gefängnis. Vor Arthas’ gebanntem Blick löste sie sich auf.
Es war nichts – niemand – darinnen!
Nur die Rüstung, eisig und schwarz, fiel klappernd zu Boden. Der Helm, vom Kopf seines Besitzers befreit, blieb vor Arthas’ Füßen liegen.
Er starrte einen langen Moment darauf und ein tiefer Schauder durchfuhr ihn.
Die ganze Zeit… hatte er einen Geist gejagt. War der Lichkönig überhaupt jemals hier gewesen? Wenn nicht, wer hatte dann Frostgram durch das Eis bewegt? Wer hatte verlangt, befreit zu werden? Hätte er, Arthas Menethil, derjenige sein sollen, der auf dem vereisten Thron eingeschlossen war?
War der Geist, den er gejagt hatte… er selbst gewesen?
Auf diese Fragen würde er nie eine Antwort bekommen. Doch eine Sache war ihm klar. Was Frostgram für ihn gewesen war, würde auch die Rüstung für ihn sein. Er legte die Finger um den stacheligen Helm und hob ihn langsam und ehrfürchtig an. Dann schloss er die Augen und setzte ihn auf den weißhaarigen Kopf.
Er war plötzlich wie elektrisiert. Sein Körper spannte sich an, als er die Essenz des Lichkönigs spürte, die in ihn eindrang. Sie durchstieß sein Herz, stoppte seinen Atem, vereiste seine Adern. Frostig und mächtig durchspülte sie ihn wie eine Flut. Seine Augen waren geschlossen, doch er sah so vieles – alles das, was Ner’zhul, der Orc-Schamane, gewusst hatte, alles, was er gesehen und erlebt hatte.
Einen Augenblick lang fürchtete Arthas, dass er davon überwältigt werden würde. Dass ihn am Ende der Lichkönig ausgetrickst hatte, damit er hierherkam. Damit er seine Essenz in einen neuen frischen Körper stecken konnte.
Er bereitete sich auf einen Kampf um die Kontrolle seines Körpers vor.
Doch es gab keinen Kampf. Nur ein Vermischen, ein Verschmelzen. Um ihn herum stürzte die Höhle weiter ein. Arthas bekam es kaum mit. Seine Augen bewegten sich hektisch hinter den geschlossenen Lidern.
Seine Lippen bewegten sich. Er sprach.
Sie sprachen.
»Nun… sind wir eins.«
EPILOG
Der Lichkönig
Die blau weiße Welt verschwamm vor Arthas Sicht. Die kalten und reinen Farben veränderten sich, wurden zu den warmen Farbtönen von Wald, Feuer und Fackellicht. Er hatte getan, was er angekündigt hatte. Er hatte sich an sein ganzes Leben erinnert, an alles, was bereits lange vorbei war. Er war erneut den Weg gegangen, der ihn zum vereisten Thron geführt und in seinen tiefen träumenden Zustand versetzt hatte.
Doch der Traum, so schien es, war noch nicht vorbei. Wieder saß er am Kopfende eines langen, reich verzierten Tisches, der den größten Teil der eingebildeten Großen Halle einnahm. Und die beiden, die sosehr an seinem Traum interessiert waren, waren noch da und beobachteten ihn.
Der Orc zu seiner Linken, ältlich, doch immer noch stark, schaute ihn an und begann zu lächeln. Das Abbild des Totenschädels auf seinem Gesicht dehnte sich dabei. Und der Junge zu seiner Rechten – der abgemagerte, kränkliche Junge – wirkte noch mitgenommener als zu Beginn des Traums.
Der Junge leckte sich die aufgeplatzten bleichen Lippen und holte Atem, als wollte er etwas sagen. Doch es war der Orc, dessen Worte die Stille zuerst durchbrachen.
»Da ist noch so viel mehr«, versprach er.
Bilder überkamen Arthas, miteinander verwoben und verschachtelt, in denen sich Zukunft und Vergangenheit vermischten. Eine Armee von Menschen zu Pferde, die das Banner von Sturmwind tragen… und die gemeinsam mit der Horde kämpften, deren Krieger auf knurrenden Wölfen saßen. Sie waren Verbündete und griffen vereint die Geißel an.
Die Szene änderte sich. Nun attackierten sich Menschen und Orcs gegenseitig – und die Untoten, die eindeutig ihrem eigenen Willen gehorchten, standen Schulter an Schulter mit den Orcs, zusammen mit merkwürdig aussehenden bullenähnlichen Männern und Trollen.
War Quel’Thalas noch unbeschädigt? Nein… nein, da war die Narbe, die Arthas und seine Armee hinterlassen hatte. Doch die Stadt war neu errichtet worden…
Die Bilder drangen jetzt schneller in seinen Geist ein. Sie waren verwirrend, konfus. Es war unmöglich, die Vergangenheit von der Zukunft zu trennen. Ein weiteres Bild erschien, in dem ein Skelettdrache Vernichtung über eine Stadt brachte, die Arthas noch nie zuvor gesehen hatte – ein heißer, trockener Ort, bevölkert von Orcs. Und…
Tatsächlich, es war Sturmwind selbst, das nun von den untoten Drachen angegriffen wurde…
Es waren Neruber – nein, nein, keine Neruber, nicht Anub’araks Volk, sondern nur Vertreter derselben Rasse. Ein Wüstenvolk waren sie. Ihre Diener waren riesenhafte Wesen mit den Köpfen von Hunden, aus Obsidian gefertigte Golems, die durch die leuchtend gelben Städte zogen.
Ein Symbol erschien, das Arthas kannte – das L von Lordaeron auf einem Schwert, aber in Rot, nicht Blau. Das Symbol änderte sich, wurde zu einer roten Flamme auf weißem Hintergrund. Die Flamme schien zum Leben zu erwachen und hüllte den Hintergrund ein, brannte ihn weg und setzte silbernes Wasser frei, aus einem riesigen Reservoir… einem Ozean… Etwas trübte die Oberfläche des Ozeans. Die bisher ruhige See begann wild zu peitschen, brodelte wie in einem Sturm, obwohl der Tag klar war. Ein schreckliches Geräusch, das Arthas nur schwach als Gelächter erkannte, dröhnte in seinen Ohren. Dazu kam das Schreien einer Welt, die aus ihrem angestammten Platz gerissen und angehoben wurde, um schließlich das Tageslicht zu erreichen, das sie schon seit ungezählten Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte.
Grün – alles war grün, schattenhaft und albtraumartig. Groteske Bilder tanzten in Arthas’ Geist, nur um davonzuhuschen, bevor er sie fassen konnte. Es gab ein kurzes Aufleuchten, das sofort wieder verschwand. Waren das Geweihe? Etwa ein Hirsch? Oder war es doch ein Mensch? Man konnte es nur schwer sagen. Die Gestalt strahlte Hoffnung aus, doch es gab Kräfte, die sie vernichten wollten…
Die Berge selbst erwachten zum Leben, machten riesige Schritte, zerdrückten alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Mit jedem mächtigen Schritt schien die Welt zu erzittern und bebte.
Frostgram. Das kannte er zumindest gut. Das Schwert überschlug sich, als hätte Arthas es in die Luft geworfen. Ein zweites Schwert entstand – lang, plump, dennoch stark, mit dem Symbol eines Totenschädels auf seiner schrecklichen Klinge. Ein Name tauchte auf. »Aschenbringer«, ein Schwert und doch viel mehr als ein Schwert, so wie Frostgram. Die zwei stießen aufeinander…