Humphries ging zum Schreibtisch zurück und rief den aktuellen Fortschrittsbericht von seiner Sonder-Sicherheitsabteilung im Gürtel auf. Die Basis auf Vesta war fertig gestellt, und vierundzwanzig Kampfraumschiffe waren zu ihren jeweiligen Positionen im Gürtel unterwegs. Alle HSS-Frachter wurden mit militärischen Besatzungen und Bewaffnung ausgerüstet. Die Kosten schmälerten zwar den Gewinn des Unternehmens, doch früher oder später würde Fuchs aufgespürt und vernichtet werden.
Inzwischen, sagte Humphries sich, muss ich den Schachzug gegen Astro machen. Es wird Zeit, Pancho abzuservieren. Dieser Schraubfix hat die Übernahme von Astro lang genug behindert.
Sie versteht nicht einmal die elementaren Grundsätze der Ökonomie, sagte Humphries sich. Angebot und Nachfrage. Astro setzt uns das Messer an die Kehle und unterbietet unsere Preise für Asteroiden-Rohstoffe. Und das verdammte Schmuddelkind wird mich immer weiter unterbieten, bis ich sie aus dem Vorstand entferne. Es ist nicht genug Platz für zwei Akteure im Gürtel. In ökonomischer Hinsicht hat es nur Sinn, wenn ein Unternehmen sich da draußen der Sache annimmt. Und dieses Unternehmen wird Humphries Space Systems sein.
Und dann schweiften seine Gedanken wieder zu Fuchs ab. Ich habe dem Hurensohn acht Jahre gegeben. Ich habe Amanda versprochen, dass ich ihm nichts tun würde, und acht Jahre lang habe ich dieses Versprechen auch eingehalten. Und was tut Fuchs? Er lässt keine Gelegenheit aus, mir zu schaden. Anstatt mir dankbar zu sein, dass ich ihn nicht getötet habe, tritt er mir jedes Mal in die Eier, wenn er eine Chance dazu hat. Acht Jahre sind lang genug. Es ist zwar verdammt teuer, ihn aufzuspüren, aber ich werde den Bastard erwischen — je früher, desto besser.
Er ist aber ein schlauer Fuchs. Clever genug, um sich im Gürtel zu verstecken und sich von seinen Felsenratten-Kumpels helfen zu lassen. Und Pancho hilft ihm auch, wo sie nur kann. Ich muss ihn aus seinem Versteck aufs offene Feld scheuchen, wo meine Leute ihn abknallen können.
Vielleicht wird die Nachricht, dass Amanda schwanger ist, ihn hervorlocken und dazu verleiten, einen Fehler zu machen.
Humphries schaute auf sein schwaches Spiegelbild in den Holo-Fenstern und sagte sich, ich würde zu gern den Ausdruck auf seinem beschissenen Gesicht sehen, wenn er herausfindet, dass Amanda meinen Sohn in sich trägt.
Mare Nubium
Die Passagiere schrien auf, als die Seilbahnkabine in der geringen Mond-Schwerkraft wie in Zeitlupe dem zwanzig Meter entfernten Boden entgegenfiel. Es war wie in einem Albtraum. Seltsamerweise verspürte Pancho keine Furcht, nur eine eigentümliche Faszination. Als sie den Boden auf die Fenster der Kabine zukommen sah, hatte sie noch Zeit für den Gedanken, wenn die Fenster zerbrechen, werden wir die Luft verlieren und in weniger als einer Minute sterben.
Die Seilbahnkabine grub sich mit einem knirschenden Stöhnen in den Boden. Pancho wurde schmerzhaft in die Schultergurte gepresst und schlug dann mit dem Hinterkopf gegen die Kopfstütze ihres Sitzes.
Für ein paar Sekunden herrschte völlige Stille. Dann hörte man die Leute stöhnen und weinen. Pancho brummte der Schädel. Automatisch löste sie die Sicherheitsgurte. Der Asio-Amerikaner, der neben ihr saß, hatte sich bereits vom Gurtzeug befreit.
»Alles okay?«, fragte er.
Pancho nickte zögernd. »Ich glaube schon.«
»Diese Kabinen sind dafür ausgelegt, einen Absturz zu überstehen«, sagte er.
»Ja.«
»Es wird bald eine Rettungsmannschaft hier eintreffen. Wir haben genug Atemluft für ein paar Stunden und dann noch die Notfalltanks.«
Pancho starrte ihn an. »Das klingt gerade so, als ob Sie das Notfallhandbuch auswendig gelernt hätten.«
Er grinste schwach und wirkte leicht beschämt. »Ich bin immer etwas nervös, wenn ich auf Reisen gehe. Deshalb lese ich alles, was ich über die Transportmittel finde, die ich benutze.«
Pancho tippte an das Glasstahl-Fenster. »Ist nicht mal gesprungen.«
»Das ist auch nur gut so. Draußen gibt es nämlich keine Luft«, erklärte er.
»Was sie nicht sagen«, erwiderte Pancho.
»Wie geht es nun weiter?«, fragte eine Frau mit scharfer Stimme.
Pancho drehte sich auf ihrem Platz um. Der Kabinenboden war geneigt, doch ansonsten wirkte alles mehr oder weniger normal. Zwei Passagiere hatten sich erhoben und standen auf etwas zittrigen Beinen herum. Sie schauten sich mit weit aufgerissenen Augen um.
»Sie sollten besser auf Ihren Plätzen bleiben«, sagte Pancho, wobei sie so viel Autorität wie möglich in ihre Stimme legte. »Die Kabine hat eine automatische Notfall-Boje. Es ist wahrscheinlich schon ein Rettungs-Team von Selene unterwegs.«
»Und wie lang wird das dauern?«
»Wird die Luft überhaupt so lang reichen?«
»Das Licht ist doch auch schon schwächer geworden, oder?«
»Wir haben auf Batteriestrom umgeschaltet«, sagte der Asio-Amerikaner. »Die Akkus sind für eine Betriebsdauer von mindestens sechs Stunden ausgelegt.«
»Sechs Stunden? Sie meinen, wir sitzen für sechs Stunden hier fest?«
»Nein, ich wollte damit nur sagen …«
Plötzlich drang eine Stimme aus den Lautsprechern in der Kabinendecke: »Seilbahn Fünf-Null-Zwo, hier spricht die Sicherheitszentrale. Wir werden in weniger als dreißig Minuten eine Rettungsmaschine losschicken. Geben Sie uns bitte Ihre Lage durch.«
Die Passagiere redeten plötzlich wild durcheinander, manche ängstlich, manche zornig.
»RUHE!«, befahl Pancho. »Wir sind abgestürzt, aber uns ist nichts passiert«, sagte sie, als die Leute verstummt waren. »Alle Systeme funktionieren. Es gibt keine schweren Verletzungen.«
»Ich habe Rückenschmerzen!«, sagte eine Frau.
»Ich glaube, ich habe mir das Handgelenk verstaucht«, sagte einer der männlichen Passagiere.
»Wir werden einen Sanitäter in der Rettungsmaschine mitschicken«, erwiderte die Lautsprecherstimme. »Bitte bewahren Sie Ruhe. Hilfe ist unterwegs.«
Pancho setzte sich auf die Armlehne ihres Sitzes und ließ durch den Mittelgang den Blick über die anderen Passagiere schweifen. Die Leute hatten sich alle wieder gesetzt. Es war niemand ernsthaft verletzt worden. Sie wirkten nur derangiert, und ein paar schauten definitiv zornig.
»Wie lang soll das denn noch dauern?«, fragte einer der Männer in die Runde. »Ich muss meinen Anschlussflug nach Kansas City erwischen.«
Pancho lächelte innerlich. Wenn sie noch so gut drauf sind, um sich zu beschweren, sagte sie sich, haben wir keine ernsthaften Probleme. Sofern das Rettungs-Team hier ankommt, bevor die Batterien schlappmachen.
Der Asio-Amerikaner presste die Fingerspitzen gegen die gewölbte Innenwand der Kabine. »Diamant-Struktur«, sagte er zu sich selbst wie zu Pancho. »Von Nanomaschinen gefertigt.«
Für Pancho hörte es sich eher wie das Pfeifen im Walde an. Dann bemerkte sie, dass er ein Plastik-Paket auf dem Schoß liegen hatte. Es enthielt zwei Atemmasken und eine kleine Sauerstoffflasche.
Gütiger Gott, sagte Pancho sich. Er hat sich wirklich auf eine Havarie vorbereitet.
Versorgungsschiff Roebuck
»Das gefällt mir immer noch nicht«, sagte Luke Abrams beim Blick auf den Radarschirm.
»Das Geld wird dir aber schon gefallen«, erwiderte seine Partnerin, Indra Wanmanigee.
Abrams warf ihr einen säuerlichen Blick zu. Sie saßen nebeneinander im Cockpit des Besatzungsmoduls der Roebuck. Normalerweise beförderte das Schiff Vorräte vom Habitat im Orbit um Ceres zu den Bergleuten und Prospektoren, die im Gürtel verstreut arbeiteten. Diesmal tauchten sie jedoch tiefer als üblich in den Gürtel ein. Und statt Vorräten transportierte die Roebuck nun eine Truppe von Söldnern, die mit zwei Hochleistungs-Lasern bewaffnet waren.
Wanmanigee war es überdrüssig geworden, ein Leben als Kauffrau für die Felsenratten zu führen, und hatte mit Humphries Space Systems vereinbart, die Roebuck als trojanisches Pferd einzusetzen. Sie sollte in den Tiefen des Gürtels kreuzen, in der Hoffnung, dass Lars Fuchs das Schiff abfangen würde, um es zu plündern. Nur dass Fuchs dann nicht die Vorräte finden würde, die er und seine Besatzung begehrten, sondern ausgebildete Söldner, die sein Schiff zerstören und ihn töten würden. Die HSS hatte ein hohes Kopfgeld auf Fuchs ausgesetzt. Das würde genügen, dass sie endlich heiraten und den Rest ihres Lebens wie eine indische Fürstin verbringen konnte.