Doch in dem Moment, als die Regierung von Selene beschloss, beschränkte Einwanderung von der verwüsteten Erde zuzulassen, war die Autarkie der Mondnation beendet. Selene wurde abhängig von den Metallen und Mineralien, sogar von Wasser, das von den Asteroiden importiert wurde. Und das anfängliche Rinnsal der Einwanderung von der Erde war zu einem stetig anschwellenden Strom geworden, wie Pancho wusste.
»Was gedenken Sie also zu tun?«, wiederholte Pancho.
»Ich werde mit Humphries sprechen«, sagte Stavenger mit betrübter Miene. »Nicht, dass ich mir allzu viel davon versprechen würde.«
Pancho verstand den sprichwörtlichen Wink mit dem Zaunpfahl. Es ist an mir, Humphries zu stoppen, wurde sie sich bewusst. Ich muss ihn bekämpfen. Kein anderer ist dazu imstande.
»Okay«, sagte sie zu Stavenger. »Sie reden. Ich werde handeln.«
»Keine Kämpfe hier«, sagte Stavenger entschieden. »Nicht hier.«
»Nicht hier, Doug«, versprach Pancho. Im Geiste stellte sie bereits Berechnungen an, wie viel es wohl kosten würde, im Asteroidengürtel gegen Humphries Space Systems Krieg zu führen.
Der Asio-Amerikaner, der den Auftrag erhalten hatte, dafür zu sorgen, dass Pancho Lane die Sabotage der Seilbahn überlebte, saß in einem ratternden Hubschrauber, mit dem er vom Flug-/Raumhafen Sea-Tac gestartet war. Er freute sich darauf, zu seinem Heim in den Bergen der Halbinsel Olympic im Staat Washington zurückzukehren. Er wusste, dass seine Familie dort auf ihn wartete. Genauso wie das üppige Honorar der Yamagata Corporation.
Der Hubschrauber setzte auf dem Kiesbett am Anfang des Pfades auf, der zu seinem Haus führte. Komisch nur, dass dort niemand zu seiner Begrüßung erschienen war. Seine Frau und die Kinder hätten den Lärm der Rotoren eigentlich hören müssen. Er ging mit der Reisetasche in der Hand zum Rand des Hubschrauberlandeplatzes und kniff in der Wolke aus Sand und Steinchen, die von den Helikopterrotoren aufgewirbelt wurde, die Augen zusammen.
Vom Kiesbett aus sah er unter sich die in den Fluten versunkene Stadt Port Townsend und die Ansammlung der dort errichteten Tauch-Camps. An einem klaren Tag vermochte er mit dem Fernglas sogar die Ruinen von Seattles Hochhäusern zu erkennen, die wie Zahnstocher aus den Gewässern des Puget Sound ragten.
Es war ein merkwürdiger Auftrag gewesen, sagte er sich. Fliegen Sie als Tourist zum Mond — zu einem Tarif, der seine ganzen Ersparnisse aufgezehrt hätte — und fahren Sie zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Seilbahn mit, wobei Sie eine Notfallausrüstung mitführen, mit der Sie gewährleisten, dass Ms. Lane bei dem ›Unfall‹ nicht ums Leben kommt.
Er zuckte die massigen Schultern und sah den Helikopter am bewölkten Himmel verschwinden. Dann drehte er sich um und ging den gewundenen Pfad zu seinem Haus entlang.
Er sah seine Frau und die Kinder nie wieder, die in ihren blutigen Betten lagen — durch Schüsse in den Kopf getötet. Zwei Männer packten ihn, als er zur Haustür hereinkam, und setzten ihm eine Pistole an die Schläfe.
Als die Polizei nach ein paar Tagen am Tatort erschien, war es für sie offensichtlich, dass der Mann erst seine Familie umgebracht und dann Selbstmord begangen hatte.
»Er muss durchgedreht sein«, sagte der Polizeichef. »Es kommt vor, dass jemand aus einem nicht nachvollziehbaren Grund ausrastet.«
Der Fall wurde abgeschlossen.
In Selene wurde der Wartungstechniker, der die winzige Sprengladung angebracht hatte, welche die Seilbahn zum Absturz brachte, ebenfalls tot aufgefunden: gestorben an einer Überdosis Rauschgift. Aus seinen Unterlagen ging hervor, dass er in seiner Eigenschaft als Angestellter der Instandhaltung von Selene kürzlich einen beträchtlichen Geldbetrag von einem unbekannten ›Wohltäter‹ erhalten hatte. Der weitere Verbleib des Geldes war nicht mehr zu rekonstruieren; anscheinend hatte er es in die Drogen investiert, die ihn getötet hatten.
In Selene machte schnell das Gerücht die Runde, dass das Geld von Humphries Space Systems stammte. Es gab jedoch keinerlei Hinweise dafür, dass es in Wirklichkeit von der Yamagata Corporation ›gespendet‹ worden war.
Das Humphries-Anwesen
»Jemand hat versucht, Pancho zu töten?« Martin Humphries vermochte seine Freude kaum zu verhehlen. »Sie meinen, es gibt noch jemanden, der diesem Biest das Licht ausknipsen will?«
Grigor Malenkovich lächelte nicht. Humphries fragte sich manchmal, ob der Mann überhaupt wusste, wie man lächelte. Grigor, der Chef der Sicherheitsabteilung von HSS, war ein schlanker, stiller Mann mit dunklem Haar, das er straff zurückgekämmt trug, und dunklen, wachen Augen. Er sprach wenig und bewegte sich wie ein Phantom. Sein Markenzeichen waren schiefergraue Anzüge. Er vermochte unbemerkt in der Menge unterzutauchen und nur von einem ausgesprochenen ›Falkenauge‹ identifiziert zu werden. In Humphries' Augen war er das Musterexemplar eines Bürokraten: Er funktionierte absolut zuverlässig, befolgte Befehle, ohne sie zu hinterfragen, und war so unauffällig wie eine graue Maus — aber auch so gefährlich wie ein Pest-Bazillus.
Nun stand er griesgrämig und ernst vor Humphries' Schreibtisch.
»Sie werden für den Mordanschlag auf sie verantwortlich gemacht«, sagte er mit einer so leisen und sanften Stimme, als ob er ein Wiegenlied sänge.
»Ich?«
Grigor nickte wortlos.
»Ich habe ihren Tod nicht befohlen«, sagte Humphries unwirsch. »Wenn Sie eigenmächtig gehandelt haben …«
»Weder ich«, sagte Grigor, »noch irgendjemand in meiner Abteilung.«
»Wer dann?«
Grigor zuckte die Achseln.
»Finden Sie es heraus«, befahl Humphries. »Ich will wissen, wer versucht hat, Pancho zu töten. Vielleicht werde ich ihm sogar eine Belohnung geben.«
»Das ist durchaus nicht komisch, Sir«, erwiderte Grigor. »Die Zentrale der Astro Corporation hat die Anweisung erteilt, die Astro-Schiffe im Gürtel zu bewaffnen.«
Humphries spürte, wie der Zorn ihm die Wangen rötete. »Dieser verdammte Schraubfix! Sie will Krieg, nicht wahr?«
»Anscheinend glaubt sie, dass Sie welchen wollen.«
Humphries trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. »Nein, will ich nicht«, sagte er schließlich. »Aber wenn sie den Kampf will, dann werde ich sie platt machen, bei Gott! Egal, was es kostet!«
Lange nachdem Grigor das Büro verlassen hatte, sagte Humphries' Telefon mit seiner synthetischen Stimme: ›Ein Anruf von Douglas Stavenger.‹
Humphries schaute finster auf die gelb blinkende Lampe am Telefon. »Sag ihm, dass ich im Moment nicht zu sprechen bin. Zeichne die Nachricht auf.«
Humphries wusste nämlich schon, was Stavenger ihm sagen wollte. Er will sich als Friedensstifter profilieren, wie er es vor acht Jahren bereits getan hat. Diesmal nicht, beschloss Humphries. Pancho will einen Krieg führen, und ich werde ihr den Gefallen tun. Ich werde sie abservieren und im Handstreich die Kontrolle über die Astro Corporation übernehmen.
Was hat dieser Deutsche damals noch gesagt, fragte er sich — der Mann, der eine Abhandlung über den Krieg geschrieben hat? Dann erinnerte er sich: Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.
Andere Mittel. Humphries — allein in seinem Büro — grinste und sagte dem Telefon, dass es Grigor anweisen solle, sich mit diesem Söldner Dorik Harbin in Verbindung zu setzen. Er ist eine Einmann-Mongolenhorde, erinnerte Humphries sich. Er läuft Amok, wenn er auf Drogen ist. Es wird Zeit, ihn auf Pancho anzusetzen.
Amanda hielt die Augen geschlossen und atmete tief und gleichmäßig. Humphries lag neben ihr im luxuriösen Schlafzimmer und zuckte leicht im Schlaf. Er hat wieder Albträume, sagte sie sich. Tagsüber ist er ein so starker und dominanter Mensch, doch im Schlaf wimmert er wie ein geprügelter kleiner Junge.