»Noch etwas«, fuhr Grigor fort, ohne auf eine Antwort zu warten. »Sobald der Kampfverband vollzählig versammelt ist, werden Sie ihn in Bereitschaft halten, bis Ihnen über mich ein Angriffsplan übermittelt wird. Mr. Humphries will keine Manöver, bevor er den gesamten Schlachtplan genehmigt hat.«
Dann lächelte Grigor wieder — offensichtlich gezwungen. »Natürlich erwarten wir auch Ihre Vorschläge für den Plan. Wir werden ihn erst dann umsetzen, wenn Sie Ihren Beitrag geleistet haben.«
Das Bild verblasste. Harbin starrte auf die leeren Stühle vor dem Schreibtisch.
»Ein Schlachtplan«, murmelte er. Humphries hält sich wohl für einen Feldherrn, der am Kartentisch bombastische Strategien entwickelt. Harbin stöhnte innerlich. Er stellt ein Waffenarsenal und eine Armee zusammen, lehnt sich dann in der Sicherheit seines unterirdischen Anwesens zurück und spielt den Operettengeneral. Ich werde seinen Befehlen aber folgen müssen, so hirnrissig sie auch sind.
Harbin war strikt darauf bedacht, sexuelle Beziehungen zu den Leuten unter seinem Kommando zu vermeiden. Kommandeure nutzen ihre Truppen nicht aus, sagte er sich. Außerdem hatte er Medikamente und virtuelle Realitäts-Simulationen, die seine Bedürfnisse zumindest teilweise befriedigten. Und in gewisser Hinsicht waren sie sogar besser als Sex; er musste sich nämlich nicht mit einem realen Menschen aus Fleisch und Blut befassen. Es ist besser, allein zu sein, sagte er sich. Es ist besser, Komplikationen zu vermeiden.
Und doch gab es eine junge Frau beim Technischen Personal, die ihn anzog. Sie hatte eine exotisch-asiatische Anmutung, war aber keine reinrassige Asiatin: Sie war groß gewachsen, schlank, hatte eine sanfte Stimme und einen makellosen goldfarbenen Teint, hohe Wangenknochen und Mandelaugen. Ihm war auch nicht entgangen, dass sie ihn schon ein paar Mal unter gesenkten Lidern hervor beobachtet hatte.
Sie erinnerte ihn an jemanden — an jemanden, den zu vergessen er sich einer monatelangen Reha-Behandlung unterzogen hatte. An jemanden, der ihn noch bis in seine Träume verfolgte, eine Frau, die nicht einmal die Drogen völlig aus dem Gedächtnis zu löschen vermochten. Eine Frau, die behauptet hatte, ihn zu lieben und die ihn dann verraten hatte. Eine Frau, die er ermordet hatte, indem er ihr die lügnerische Zunge mit bloßen Händen aus dem Hals gerissen hatte.
Harbin wachte des Nachts auf und weinte um sie. Und nun beobachtete diese eurasische Ingenieurin ihn verstohlen, wenn sie im selben Raum zusammen waren, und lächelte ihn verführerisch an, wenn er sich bewusst wurde, dass sie ihn anschaute.
Harbin versuchte, sie zu ignorieren, aber es gelang ihm nicht. In den Wochen und Monaten, die über der Errichtung der Basis vergingen, vermochte er ihr nicht ständig aus dem Weg zu gehen. Und jedes Mal, wenn er sie sah, lächelte sie und beobachtete ihn stumm; als ob sie nur darauf wartete, dass er ihr Lächeln erwiderte, sie ansprach, sie fragte, wie ihr Name war oder wo sie herkam oder wieso sie hier auf diesem gottverlassenen Vorposten in den Tiefen des Nichts ausharrte.
Doch anstatt mit ihr zu sprechen, rief Harbin ihr Dossier auf seinem Bürocomputer auf. Ihr Name war Leeza Chaptal; geboren in Selene, der Vater ein französischer Mediziner, die Mutter eine japanisch-amerikanische Biologin. Sie war Lebenserhaltungs-Ingenieurin und hatte einen Vertrag mit Humphries Space Systems, der jährlich verlängert wurde. Allerdings hatte sie sich für diesen Job auf Vesta nicht beworben; vielmehr war sie vor die Wahl gestellt worden, die Stelle anzunehmen oder wegen Vertragsbruchs gefeuert zu werden.
Sie ist hier nicht glücklich, sagte Harbin sich und überflog ihr Dossier. Dennoch machte sie sich gut. Ihr Vorgesetzter wusste ihre Arbeit zu schätzen, wie er sah.
Erst als das Telefon summte, wurde Harbin sich bewusst, dass er seit mehr als einer Viertelstunde auf ihr Foto gestarrt hatte.
Humphries' Träume
Er war wieder ein Kind und wurde an der Hand durch das majestätische Gebäude mit Wänden aus Marmor geführt, wo Leute schweigend in kleinen Gruppen zusammenstanden, auf die Bilder auf den Wänden schauten und sich mit gedämpfter Stimme unterhielten. Die Bilder bedeuteten ihm nichts, genauso wenig wie die Namen, die sein Privatlehrer ihm zuflüsterte: da Vinci, Raphael, Degas, Renoir. Dann sah er das Bild der eleganten Segelboote, die durch ein ruhiges blaues Meer unter der Sommersonne glitten. Als er sich nicht mehr davon loszureißen vermochte, sagte sein Privatlehrer herablassend: »Monet. Er wird eigentlich überschätzt.«
Plötzlich war es Weihnachten, und statt des Gemäldes, das er sich gewünscht hatte, schenkte sein Vater ihm einen neuen Computer. Als er vor Enttäuschung in Tränen ausbrach, baute sein Vater sich vor ihm auf und sagte streng: »Im Internet kannst du dir so viele Bilder anschauen, wie du willst.«
Und dann war er auf dem Boot, dem Trimaran, und der Sturm zog schnell auf, und das Boot wurde von den riesigen Wellen umhergeworfen, und eine Welle schlug überm Bug zusammen und riss ihn von den Füßen. Er spürte, wie ihm die Glieder taub wurden im kalten Wasser und er unterging, während sein Vater auf dem schwankenden Deck stand und mit verschränkten Armen und enttäuschtem Gesichtsausdruck zusah. Es ist ihm egal, ob ich ertrinke, wurde der kleine Martin sich bewusst, als er hilflos im eisigen Wasser zappelte. Es ist ihm gleich, ob ich lebe oder sterbe.
»Das war dumm von dir, Marty«, knurrte sein Vater ihn an, nachdem ein Besatzungsmitglied ihn aus dem Meer gefischt hatte. »Du bist jetzt neun Jahre alt und hast noch immer weniger Verstand als ein Spatz.«
In diesem Moment begriff Martin Humphries — neun Jahre alt, klatschnass und vor Kälte bibbernd —, dass es niemanden auf der Welt gab, der ihn beschützte; niemanden, der ihm half, und niemanden, der ihn liebte. Nicht einmal seine Mutter, die die meiste Zeit betrunken war, scherte sich einen Dreck um ihn. Er war allein. Abgesehen davon, was und wen er kaufen konnte.
›Das ist nur ein Traum‹, sagte er sich. ›Das alles ist schon vor langer Zeit geschehen. Mutter ist schon seit einer Ewigkeit tot, und Vater ist vor ein paar Jahren gestorben. Es ist vorbei. Er kann dich nicht mehr erniedrigen.‹
Aber andere waren dazu in der Lage. Er sah sich auf der Vorstandssitzung der Astro Corporation, wo jeder am langen Tisch ihn anstarrte.
Am Kopfende des Tischs, auf dem Platz der Vorsitzenden, zu der sie eben gewählt worden war, wies Pancho Lane anklagend mit dem Finger auf ihn.
»Wie lang wollen wir noch zulassen, dass der Chef unseres größten Rivalen in unserem Vorstand sitzt?«, fragte sie mit Nachdruck. »Wie lang wollen wir den Judas denn noch unter uns dulden? Ihm geht es doch nur darum, die Kontrolle über die Astro Corporation zu übernehmen, und er wird jede Chance nutzen, uns zu schaden, wenn wir ihn nicht hier und jetzt loswerden.«
Die Abstimmung war knapp, aber nicht knapp genug.
»Das war's dann«, sagte Pancho und vermochte kaum das zufriedene Grinsen zu verbergen, das um ihre Mundwinkel spielte. »Martin, Sie sind aus diesem Vorstand gekegelt worden. Das war aber auch höchste Zeit.«
Er sah, dass er kreidebleich im Gesicht war und dass ihm die Hände zitterten, so sehr er sich auch anstrengte, sie unter Kontrolle zu halten. Die anderen versuchten zwar, ihre Gefühle zu verbergen, aber er sah dennoch, dass sie insgeheim über ihn lachten. Sie alle — sogar diejenigen, von denen er geglaubt hatte, sie würden auf seiner Seite stehen.
Er spürte kalten Schweiß auf Stirn und Oberlippe und stand mit wackligen Beinen auf. Das Blut rauschte ihm in den Ohren, und im Kopf jagten sich revanchistische und trotzige Gegenreden.
»Wir sind noch nicht fertig miteinander«, war aber alles, was er hervorbrachte.
Als er aus dem mit edlen Teppichen ausgelegten Vorstandszimmer wankte, hörte er gedämpftes Lachen hinter seinem Rücken. Ich werde es ihnen heimzahlen, schwor er sich. Jedem Einzelnen von ihnen. Ganz besonders Pancho, diesem Dreckstück aus der Gosse. Ich werde es ihnen allen heimzahlen, und wenn es mich den letzten Penny und jeden Tropfen Schweiß und Blut kostet. Ich werde es ihnen heimzahlen. Ich werde sie tot sehen. Ich werde auf ihren Gräbern tanzen.