Sie ist zu klug, um ihr eigenes Schiff zu benutzen, sagte Harbin sich, als die Kurven, die die Kurse der einzelnen Schiffe darstellten, der Reihe nach ausgeblendet wurden. Sie wird sich an Bord eines Prospektoren-Schiffs oder vielleicht auf einem Astro-Versorgungsschiff befinden.
Die Bahndaten kamen direkt von den IAA-Controllern im Habitat Chrysallis, das Ceres umkreiste. Harbin wünschte sich, dass Humphries genug Spione an Bord des Habitats hätte, um Pancho Lane zu observieren und zu sehen, an Bord welchen Schiffs sie ging, doch solche Informationen standen ihm nicht zur Verfügung.
Also entsandte er drei bewaffnete Schiffe in den Gürtel und hielt noch drei weitere in einer losen Formation um sein eigenes Schiff angeordnet. Für einen unbefangenen Beobachter sah es aus wie ein paar Prospektoren-Schiffe, die Kurs in den Gürtel nahmen. Harbin hoffte, dass Fuchs das auch so sehen würde.
Das Dickicht der Kurven auf dem Schirm lichtete sich, bis nur noch die geplante Flugbahn eines Schiffes gezeigt wurde. »Doofer Computer«, murmelte Harbin und schüttelte den Kopf. Das Manifest des Schiffes besagte, dass es der Regierung von Ceres gehörte und niemand anders beförderte als ihren Chef-Administrator, der sich auf eine Inspektionsreise zu den verschiedenen Bergbauoperationen im Gürtel begab. Der Chef der Felsenratten will seine kleinen Felsenratten-Brüder besuchen, sagte Harbin sich.
Doch dann verengten seine Augen sich. Wieso pilgert ihr Verwaltungschef durch den Gürtel? Hat er das bisher jemals getan, befragte er den Computer. Die Antwort erfolgte fast, bevor er die Frage noch formuliert hatte. Noch nie. Das war die erste Inspektionstour in den Annalen des Gürtels.
Harbin lächelte grimmig. Vielleicht ist der Computer doch nicht so doof. Er sandte eine Nachricht an Grigor im weit entfernten Selene. »Besteht die Möglichkeit herauszufinden, wer sich zusammen mit dem Verwaltungschef der Felsenratten auf dem Fusionsschiff Mathilda II befindet?«
Grigor erwiderte nach etwas über einer Stunde. »Es liegt keine Passagierliste vor. Anscheinend befinden sich nur die dreiköpfige Besatzung und dieser Ambrose an Bord.«
Harbin nickte und erinnerte sich, dass Pancho Lane früher von Beruf Astronautin gewesen war. Sie war wahrscheinlich in der Lage, den Platz eines Besatzungsmitglieds auf Ambroses Schiff einzunehmen.
»Programmieren Sie einen Kurs, um dem auf dem Monitor abgebildeten Schiff zu folgen«, wies er seinen Navigator an. »Halten Sie aber Abstand. Sie sollen nicht wissen, dass wir ihnen folgen.«
Die Mathilda II war ungleich komfortabler als die alte Waltzing Mathilda. Der alte Eimer war ein Bergwerksschiff gewesen, bevor er im ersten Asteroiden-Krieg schrottreif geschossen wurde. Die Mathilda II war ein komfortabel eingerichtetes Fusionsschiff, das auch hochrangige Personen ›standesgemäß‹ zu befördern vermochte und zugleich als mobiles Büro für den Verwaltungschef der Siedlung Ceres diente.
Der auf einem Drehstuhl in der Bordküche sitzende George sagte: »Ich habe die Nachricht für Lars abgesetzt und ihm gesagt, wo wir auf ihn warten. So werden wir ihn nicht überraschen.«
Pancho saß George am Küchentisch gegenüber. Sie waren beim Abendessen. Pancho stocherte in einem Salat, während George Rippchen verzehrte.
»Und der Treffpunkt, den du ausgewählt hast, ist nicht identisch mit einem Standort der Transceiver?«, fragte sie.
»Nein«, sagte George und tupfte sich den Bart mit einer Serviette ab. »Wir werden uns im leeren Raum treffen. Ich habe ihm die Koordinaten gegeben. Falls jemand uns folgt, werden wir beide ihn so früh erkennen, dass er uns keine Schwierigkeiten machen kann.«
Pancho nickte. »Und du sendest alle Nachrichten per Bündellaser-Verbindung an Lars?«
»Ja. Es ist praktisch unmöglich, sie abzufangen oder uns zu belauschen. Und falls wirklich jemand den Strahl anzapft, macht es sich sofort als Leistungsabfall bemerkbar.«
»Echt gut.«
»Echt notwendig«, sagte George und nahm sich das nächste Rippchen vor.
In den Wochen seit dem letzten Zusammentreffen mit dem getarnten Logistik-Schiff Roebuck hatte Lars Fuchs die Bewaffnung seiner Nautilus noch einmal verbessert.
Schiffe, die im tiefen Raum operierten, benötigten einen Strahlenschirm. Wenn auf der Sonne Protuberanzen aufloderten und planetengroße Wolken tödlicher ionisierender Partikel in den interplanetarischen Raum spien, war ein Schiff ohne Abschirmung praktisch ein Sarg für seine Besatzung. Die hochenergetischen Protonen in solchen Wolken waren besonders gefährlich und vermochten innerhalb von Minuten Menschen zu töten und elektronische Systeme zu verschmoren, wenn sie nicht gut geschützt wurden.
Die meisten Raumschiffe schützten sich, indem sie die Außenhaut mit einem sehr hohen positiven elektrischen Potenzial aufluden. Das lenkte die tödlichen energiereichen Protonen der Strahlenwolke ab. Die Wolke enthielt aber auch Elektronen, die zwar weniger energiereich, aber durchaus in der Lage waren, das positive elektrische Feld des Schiffs zu entladen. Um die Elektronen abzuwehren, umgaben die Schiffe sich mit einem Magnetfeld, das durch dünne supraleitende Drähte erzeugt wurde. So wurden Raumfahrzeuge, die außerhalb des Erde/Mond-Systems operierten, in ein unsichtbares, aber starkes eigenes Magnetfeld gehüllt und luden die Außenhaut mit einem hohen positiven Potenzial auf, wenn ein Sonnensturm ausbrach.
Fuchs nutzte in seiner Eigenschaft als früherer Planeten-Geochemiker die Elektronenkanonen der Nautilus, um die Hülle seines Schiffs aufzuladen, und überzog das Raumschiff mit losem Geröll und Staub eines chondritischen Asteroiden. Bei einer Radarabtastung des Raumschiffs wirkte es wie die geröllübersäte Oberfläche eines kleinen Himmelskörpers. Außerdem würden Staub und Geröll einen Laserstrahl streuen und seine Energie sogar noch besser absorbieren als die Kupferplatten, die er früher am Rumpf der Nautilus angebracht hatte.
Fuchs war sich sicher, wenn er sein Schiff in einem Orbit um die Sonne driften ließ, würde die Nautilus bei einer zufälligen Untersuchung nur wie ein kleiner, hantelförmiger Asteroid wirken. Weniger sicher war er sich allerdings, ob und wie er auf die letzte Nachricht von Big George reagieren sollte.
Pancho will mich persönlich treffen, sinnierte er. Wieso? Was ist so wichtig, dass sie hierher in den Gürtel kommt, um mich persönlich zu besuchen?
»Das gefällt mir nicht«, murmelte er vor sich hin.
Sanja, der Sohn eines ehemaligen mongolischen Stammes-Angehörigen, der auf dem Pilotensitz Dienst tat, drehte den kahl rasierten Kopf zu Fuchs und fragte: »Sir?«
»Nichts, Sanja«, sagte Fuchs. »Nichts. Sobald du die Orbitalgeschwindigkeit erreicht hast, schalte das Triebwerk ab und lass das Schiff treiben.«
Mathilda II
»Wir haben die bezeichnete Position erreicht«, sagte der Pilot.
Pancho saß im Copilotensitz auf der gemütlichen, funktionellen Brücke der Mathilda II. Der Pilot zu ihrer Linken war ein junger Mann, den sie beim Einchecken zu diesem Flug kennen gelernt hatte. Blond, mit weichen Gesichtszügen und einer rosig geschrubbten Haut mutete er Pancho wie ein Kind an, aber er steuerte das Schiff geübt. Ihr fiel auf, dass er markante breite Schultern hatte. Pancho wusste, dass sie als Pilotin etwas aus der Übung war, aber insgeheim sehnte sie sich doch nach einer Gelegenheit, diesen Eimer zu fliegen — und sei es nur für eine kurze Strecke. Aber darum konnte sie natürlich nicht bitten. Die Vorstandsvorsitzende der Astro Corporation war doch kein Flieger-Mädchen. Eine der Schmähungen, die Humphries ihr oft an den Kopf warf, war ›Schraubfix‹. Pancho hatte nicht die Absicht, dem Stecher noch zusätzliche Munition zu liefern.