George nickte Panchos Pferdegesicht zu. Es machte einen ernsten und düsteren Eindruck. Wie eine Frau, die in den Krieg zog, sagte George sich. Nein, korrigierte er sich, sie sieht eher wie ein Racheengel aus.
Victoria Ferrer beobachtete Humphries' Reaktion auf die aktuellsten Berichte seines weit verzweigten Nachrichtendienstes.
»Astro bewaffnet Schiffe«, murmelte er und starrte auf die Grafik, die über seinem Schreibtisch in der Luft hing. »Und sie forcieren den Nanoverarbeitungs-Plan.«
»Sie bereitet sich auf einen Krieg vor«, sagte Ferrer. »Gegen Sie.«
Er schaute mit einem Ausdruck kalten Zorns zu ihr auf. »Mit Nanoverarbeitung kann Pancho ihre Kosten reduzieren und Astro zusätzliche Gewinne bescheren, um ihren Krieg zu finanzieren.«
»Dann müssen wir eben auch zu Nanoverarbeitung greifen.«
»Und zwar verdammt schnell«, blaffte Humphries.
»Der Wissenschaftler, der den Prozess perfektioniert hat, ist hier in Selene«, erläuterte Ferrer. »Er ist mit Pancho gekommen.«
»Werben Sie ihn von Astro ab«, sagte Humphries wie aus der Pistole geschossen.
»Er ist gar kein Astro-Mitarbeiter«, sagte sie. »Zumindest nicht offiziell.«
»Dann stellen Sie ihn ein. Geben Sie ihm, was er will. Und wenn er nicht freiwillig zu uns kommt, kidnappen Sie ihn. Ich will, dass er für mich arbeitet!«
»Ich verstehe«, sagte Ferrer.
Humphries rieb sich die Hände. »Bei Gott, mit Nanoverarbeitung werden wir die Bergbaukosten fast auf null reduzieren. Etwa bis aufs Niveau der Transportkosten.«
»Nanotechniker sind aber nicht billig.«
»Billig genug«, sagte er spöttisch. »Zumal wir auch nur ein paar von ihnen brauchen. Diese kleinen Helferlein werden nicht nur für uns Erz aus den Asteroiden schürfen, sondern es gleichzeitig zu reinem Metall veredeln. Was will man mehr?«
Ferrer schien weniger begeistert. »Viele Bergarbeiter werden dann arbeitslos.«
»Na und?«, sagte Humphries gleichgültig. »Dann gibt es mehr Söldner.«
Mehr Kanonenfutter, sagte Ferrer sich.
Dorik Harbin befand sich noch immer in seinem Quartier im Asteroiden Vesta. Er versuchte den französischen Ausspruch zu beherzigen, wonach Veränderung das Einzige ist, was wirklich Bestand hat. Stattdessen kam ihm ein Vierzeiler aus dem Rubaiyl in den Sinn:
Die Ironie ist fast kosmisch, sagte Harbin sich. Humphries entlässt mich, weil ich daran gescheitert bin, Fuchs zu töten. Yamagata stellt mich ein, um eine Abteilung von Söldnern zu führen. Humphries heuert Yamagatas Söldner an und stationiert ihre Schiffe auf Vesta. Ich muss nicht umziehen, muss nicht einmal meine Reisetasche packen. Ich bin noch immer an derselben Stelle — tiefer im Rang, aber höher in der Lohngruppe. Alles, was ich tun muss, ist, drei Schiffe in den Kampf gegen die Astro Corporation zu führen. Fuchs ist ein Randproblem geworden.
Seine Beziehung mit Leeza Chaptal hatte sich allerdings geändert. Sie war Yamagatas ranghöchster Offizier unter den Söldnern, die Humphries Space Systems angeheuert hatte. Nun war sie ranghöher als Harbin und hatte wenig Zeit für ihn. Das war auch gut so, sagte Harbin sich. Es machte ihm keinen Spaß, mit einer Vorgesetzten zu schlafen. Es war eine Sache, im Gefecht Befehle von einer Frau entgegenzunehmen; im Bett war es jedoch etwas ganz anderes.
Aber Harbin fand auch so Trost. In der Reisetasche, die er nun doch nicht packen musste, befand sich nämlich ein grauer flacher, länglicher Medikamentensatz mit einer subkutanen Mikrospray-Spritze und einer Anzahl speziell entwickelter Medikamente.
Etwas für jede Stimmung, sagte Harbin sich, als er zur Tasche ging und den Medikamentensatz herausholte. Er setzte sich aufs Bett, öffnete den Klickverschluss und überprüfte die akkurat angeordneten Ampullen in ihren Halterungen. Etwas, um Depressionen zu lindern. Etwas, um die Potenz zu steigern. Dies hier löst Angst. Das hier beschleunigt die Reaktion. Jede Substanz ist eigens auf meinen Stoffwechsel abgestimmt. Und Leeza sagt, Yamagata könne so viel liefern, wie ich brauche.
Was du heute schon bist und immer warst … Er wiederholte die Zeile immer wieder im Geist, während er eine Ampulle aus der akkuraten kleinen Reihe nahm und sie in die Spritze einsetzte. Etwas, um mich alles vergessen zu lassen, sagte er sich. Etwas zum Vergessen.
Er krempelte den Ärmel der Uniformjacke hoch und presste die Spritze auf die Haut des Unterarms. Er hörte das leise, beruhigende Zischen.
Er schaute auf und sah, dass der Wandbildschirm eine Oberflächenansicht von Vesta zeigte. Ein Splitter kahlen Gesteins, und dann die schwarze Leere der Unendlichkeit. Sterne über Sterne schauten ihn stumm und ernst an. Eine öde Wildnis aus Kälte und Finsternis.
Die Wirkung der Droge setzte schnell ein. Harbin legte sich aufs Bett und sagte sich, und schon wird Wildnis uns zum Paradies.
Er schloss die Augen und bat die schweigenden Sterne, ihn vom Träumen abzuhalten.
Selene: Restaurant Erdblick
Levi Levinson hatte solch ein luxuriöses Restaurant bisher nur auf Videos gesehen. Der größte Restaurationsbetrieb des Hotels Luna, das Erdblick, lag drei Ebenen tief unter dem Boden des Kraters Alphonsus — groß genug für hundert Tische mit schweren Damasttischdecken, auf denen Silberbesteck lag und kristallene Weingläser standen und die wirklich von echten, flackernden Kerzen erhellt wurden. Der weitläufige Saal hallte wider von gedämpften Gesprächen und dezenter klassischer Musik, die aus den Deckenlautsprechern perlte. Echte, lebendige Kellner in formeller Abendkleidung bewegten sich zwischen den Tischen. Levinson verschwendete keinen Gedanken daran, dass er den üblichen Overall trug; er hatte nichts Besseres in seiner spärlichen Garderobe. Ebenso wenig sah er, dass die meisten Tische des Restaurants nicht besetzt waren. Sein Blick wanderte zu den breiten Holo-Bildschirmen an den Wänden, von denen jeder eine Echtzeit-Abbildung der Erde zeigte: Sie hing blau-weiß glühend am Himmel über den Ringwallbergen von Alphonsus und bildete einen Kontrast zu der Schwärze des Alls.
Er war mehr als eine Viertelstunde zu früh dran für seine Verabredung mit Victoria Ferrer, sodass der maitre d' ihn zu einem leeren Tisch führte. Er nahm Platz und musterte die gut gekleideten Touristen und Manager an den wenigen anderen besetzten Tischen, während ein Kellner Wasser einschenkte und eine Weinkarte auf dem Tisch zurückließ. Levinson gab sich mit dem Wasser zufrieden. Ein Bier wäre ihm eigentlich lieber gewesen, aber er hatte Hemmungen, eins zu bestellen.
Nachdem er so viele Wochen in Selene in einem Apartment gelebt hatte, das von der Astro Corporation zur Verfügung gestellt worden war, fühlte Levinson sich leicht schuldig, weil er von einem Manager des Konkurrenten Humphries Space Systems eine Einladung zum Abendessen angenommen hatte. Aber was soll's, zum Teufel, sagte er sich; ich bin schließlich kein Astro-Angestellter, und Pancho Lane hat mich ignoriert, seit sie mich hierher gebracht hat. Als ob sie mich aus dem Weg haben und verstecken müsste wie einen Zeugen, der auf der Erde gegen ein Verbrechersyndikat aussagen soll. Ich habe nichts Besseres zu tun, bis das Journal of Nanotechnology meine Arbeit veröffentlicht. Und selbst dort verschleppt man die Sache, als ob man es überhaupt nicht veröffentlichen wollte.