Und Stavenger war fest entschlossen, das auf keinen Fall zuzulassen.
»Angenommen, es würde auch eine dritte Partei Raumschiffe bestellen«, sagte er betont beiläufig zur Betriebsleiterin. »Wären Sie imstande, die Bestellungen mit der derzeitigen Kapazität auszuführen?«
Er vermochte ihr Gesicht durch den Hartschalen-Helm nicht zu erkennen, aber er registrierte ihr Nicken. »Sicher. Wir würden ein weiteres Werk errichten müssen, aber das wäre ein leichtes: einfach ein Betonfundament gießen und es überdachen. Den Rest erledigen dann die Nanos.«
Stavenger nickte. »Ich verstehe.«
Neugier überkam die Betriebsleiterin. »Aber wer sollte überhaupt mehr Schiffe bestellen? Wer würde dieser Dritte sein?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte er mit einem angedeuteten Achselzucken. »Vielleicht Selene.«
Die Überraschung der Betriebsleiterin hätte nicht größer sein können, als wenn Stavenger auf dem Fabrikboden einen Handstand gemacht hätte.
Keine zwanzig Kilometer von der neuen Mondfabrik entfernt ging Lars Fuchs durch den Zoll von Selenes Raumhafen Armstrong.
Er hatte den Mond auf einem Umweg erreicht: Er hatte den Gürtel schon vor Wochen verlassen, um in sein Heimatland Schweiz zurückzukehren. Dazu bediente er sich des Passes, den Pancho ihm durch Big George zugestellt hatte. Obwohl er von Ceres verbannt und in Selene eine persona non grata war, hatten weder die Schweiz noch eine andere Nation der Erde Fuchs kriminalisiert. Zollbeamte am Raumhafen von Mailand hatten ihn einer schnellen, aber gründlichen medizinischen Untersuchung unterzogen, einschließlich eines Ganzkörper-Scans und einer Blutprobe, durch die man sich vergewisserte, dass er keine Nanomaschinen in sich trug.
So kehrte Lars Fuchs, Bürger der Schweiz, nun in seine Heimat zurück. Trotz des wochenlangen Trainings in einer Zentrifuge, die er an Bord der Nautilus gebaut hatte, fühlte er sich erschöpft und niedergedrückt von der hohen Schwerkraft der Erde. Noch schlimmer war der Anblick der ausgedehnten Zeltstadt außerhalb Mailands, auf die er aus dem Hochgeschwindigkeitszug, mit dem er zu den Alpen unterwegs war, einen Blick erhaschte. Von den neu errichteten und bewachten Grenzen der Stadt, vorbei an Brescia und die ganze Strecke zu den Ufern des Gardasees sah er nichts als Baracken und Hütten der Menschen, die durch den Klimakollaps ihre Heimat und ihr ganzes Hab und Gut verloren hatten. Für sie gab es keine Hoffnung mehr.
Es ist schon so lang her, sagte Fuchs sich beim Blick durchs Zugfenster, und sie hausen noch immer wie Tiere.
Dann erhaschte er den ersten Blick auf die Alpen. Kahles Gestein, karg und öde wie auf dem Mond. Wo ist der Schnee geblieben, fragte er sich und wusste doch, dass er schon längst verschwunden war — vielleicht für Jahrhunderte, vielleicht auch für immer.
Seine Welt, die Welt, die er gekannt hatte, war auch verschwunden. Er wusste nicht, wie sehr er sie geliebt hatte, wie sehr er sie vermisst hatte, bis er sich bewusst wurde, dass er sie nie mehr sehen würde.
Als der Zug in den Tunnel unterm Brenner-Pass einfuhr, starrte Fuchs auf sein düsteres Spiegelbild im Fenster. Er wandte den Blick ab, schloss die Augen zu und nahm sich vor, nicht mehr an die Vergangenheit zu denken. Nur noch an die Zukunft. Denk nur an den Tag, an dem du Martin Humphries tötest.
Um das zu tun, musste er nach Selene zurückkehren, und um das zu vollbringen, musste er seine Identität ändern. Pancho glaubte, sie würde Fuchs das Leben retten und den Mann schützen, den sie gekannt hatte, seit er vor über einem Jahrzehnt als Hochschulabsolvent mit hochfliegenden Plänen die Erde verlassen hatte. Sie hatte Fuchs mit einer neuen Identität und genug Geld versorgt, um für ein paar Jahre gut zu leben. Auf sein Verlangen hatte sie die neun Männer und Frauen seiner Mannschaft genauso großzügig versorgt. Die noch immer als Asteroid getarnte Nautilus wurde auf einer Sonnenumlaufbahn tief im Gürtel geparkt. Sie wird auf mich warten, wenn ich die Sache mit Humphries zu Ende gebracht habe, sagte sich Fuchs.
Er wusste, worum es sich dabei handelte — daran bestand kein Zweifel. Pancho hat mich nicht aus bloßer Freundschaft auf die Erde gebracht. Sie will, dass ich nach Selene zurückkomme. Sie kann keiner Kommunikationsverbindung genug vertrauen, um viele Worte zu machen, aber ihre Absicht ist klar. Sie will, dass ich Humphries töte. Sie weiß, dass ich es auch will, und sie ist bereit, mir dabei zu helfen. Es wird ihr natürlich eine große Hilfe sein. Aber mir wird es eine Freude sein. Auch wenn es mich selbst das Leben kostet, ich werde Humphries auslöschen.
Sein Rachedurst hielt ihn für den Rest der Zugfahrt nach Bern aufrecht.
Als er jedoch in seinem heimatlichen Bern eintraf, befielen ihn Traurigkeit und Verzagtheit. Die alte Stadt war heruntergekommen und mit heimatlosen Männern, Frauen und Kindern überfüllt, die ziellos durch die Straßen wanderten und um Geld bettelten, wenn die Polizei gerade nicht hinschaute. Fuchs war erschüttert, dass die Straßen mit Abfall übersät waren; die früher so schöne und saubere Stadt war nun schmutzig und befand sich offensichtlich im Stadium des Verfalls. Und nachts waren die Straßen sogar unsicher, wie der müde wirkende Hotelportier ihm sagte.
Eine Woche war mehr als genug für ihn. Fuchs benutzte den Ausweis, den Pancho ihm besorgt hatte, um einen Flug nach Selene zu buchen. Mit einer Kreditkarte, die auf die Astro Corporation lief, mietete er eine bescheidene Suite im Hotel Luna. So bin ich näher an Humphries, sagte er sich. Fast auf Armlänge. Nah genug für einen Fangschuss. Aber ich muss geduldig sein, sagte er sich. Ich muss vorsichtig sein. Humphries wird von Wachen und anderen Angestellten umgeben. Pancho vermag mich nicht an ihn heranzuführen; sie kann es sich nicht leisten, als Komplizin eines Mörders entlarvt zu werden. Ich werde allein handeln müssen. Ich werde selbst zu Humphries durchkommen müssen. Ich weiß zwar nicht wie — noch nicht —, aber ich werde es schaffen. Oder bei dem Versuch draufgehen.
Er musste sich natürlich tarnen. Einlagen in den Schuhen machten ihn etwas größer. Durch strenge Diät verlor er etwas an Gewicht, doch kein Fasten vermochte die Tonnenbrust und die muskulösen Gliedmaßen zu reduzieren. Er hatte sich einen dichten schwarzen Bart wachsen lassen und trug moleküldünne Kontaktlinsen, die Astros Leute ihm hatten zukommen lassen; sie veränderten sein Netzhautmuster soweit, um eine einfache Abgleichs-Program-mierung eines Computers zu täuschen.
Dennoch schwitzte Fuchs vor lauter Nervosität, als er in der Schlange sich dem Zollhäuschen an Selenes Raumhafen Armstrong näherte. Er hatte ein leichtes Beruhigungsmittel genommen, aber es schien seine wachsende Besorgnis nicht in den Griff zu bekommen.
Als er zur Zollstation kam, mutete die deutsche Computer-Stimme ihn etwas sonderbar an, bis er sich bewusst wurde, dass die Maschine nicht darauf programmiert war, in seinem schweizerischen Dialekt zu sprechen. Er erwiderte die Fragen des Computers möglichst kurz; obwohl er wusste, dass der Rechner kein Sprachmodell von Lars Fuchs im Speicher hatte, befürchtete er dennoch, dass sein Stimmenabdruck registriert war. Das war nicht der Fall. Er befolgte die Anweisungen und schaute für die erforderlichen fünf Sekunden in den Netzhaut-Scanner, wobei er sie stumm mitzählte.
Die automatischen Systeme, die in den Bogengang direkt vor der Zollkabine integriert waren, durchleuchteten die Reisetasche und ihn selbst. Fuchs trug nichts mit sich oder am Körper, das Alarm ausgelöst hätte. Der Inspektor, der in seiner Kabine hinter dem Zollautomaten saß, wirkte gelangweilt, und sein dünnes Lächeln war gezwungen. Fuchs reichte ihm den gefälschten Ausweis-Chip, und der Inspektor steckte ihn in den Computer.