»Eine Neutralitätserklärung«, wiederholte jemand.
»Glauben Sie, dass es funktionieren würde?«
George breitete die großen Hände aus. »Hat irgendjemand eine bessere Idee?« Schweigen senkte sich über den Konferenzraum.
George entwarf die Erklärung in den nächsten vierundzwanzig Stunden mit der Hilfe eines Assistenten, der vor der Ankunft im Gürtel Historiker gewesen war. Der Rat trat wieder zu einer Krisensitzung zusammen, zerriss den Entwurf in der Luft und schrieb ihn mehrmals um, bis schließlich eine Endfassung herauskam, die fast in jedem Satz mit Georges ursprünglichem Entwurf übereinstimmte. Erst dann erklärte der Rat sich bereit, George die Erlaubnis zu erteilen, die Erklärung an Pancho Lane von Astro, Martin Humphries von HSS und an den Regierungsrat von Selene zu senden. George fügte eine Kopie für Douglas Stavenger hinzu und leitete die Erklärung dann an die Medien in der Erde/Mond-Region weiter.
In den darauf folgenden Tagen war Big George Ambrose eine kleine Medienattraktion. Durch Ceres' Neutralität wurde den meisten Menschen auf der geschundenen alten Erde überhaupt erst bewusst, dass es Krieg im Weltraum gab: einen stillen, heimlichen Krieg, der weit weg in den dunklen und kalten Tiefen des Asteroidengürtels stattfand.
Für ein paar Tage war der Asteroiden-Krieg das Top-Thema in den Nachrichtennetzen, wenn auch kein Manager von Humphries Space Systems oder der Astro Corporation geneigt war, ein Interview oder auch nur einen Kommentar abzugeben. Sam Gunn, Kodderschnauze und unabhängiger Unternehmer, hätte bestimmt viel zu sagen gehabt, aber die Medien wurden durch Gunns frühere flammende Anklagen der Schandtaten der großen Konzerne abgeschreckt. Nobuhiko Yamagata erklärte sich indes zu einem kurzen Interview bereit, hauptsächlich um sein Bedauern auszudrücken, dass draußen im Gürtel Menschen ihr Leben ließen.
Dann erschütterte ein starkes Erdbeben die kalifornische Küste und löste Erdrutsche aus, die wiederum Tsunamis verursachten, die durch den Pazifik liefen, Hawaii verwüsteten und mehrere polynesische Atolle überspülten. Japan rechnete mit dem Schlimmsten, doch die hydraulischen Puffer, die Yamagata gebaut hatte — und für die er verlacht worden war —, absorbierten so viel von der Energie der Tsunamis, dass die japanischen Großstädte von größeren Zerstörungen verschont blieben. Der Asteroidenkrieg rutschte auf der Rangliste der täglichen Meldungen der Nachrichten-Netzwerke auf den zweiten Platz ab. Und nach einer Woche war er nur noch eine Randnotiz — vor allem deshalb, weil er weit entfernt von der Erde stattfand und keine unmittelbaren Konsequenzen für die auf der Erde ansässigen Nachrichten-Produzenten hatte.
George Ambrose erhielt schließlich eine persönliche Nachricht von Douglas Stavenger. Sie war zwar nur kurz, aber sie enthielt mehr, als George zu hoffen gewagt hatte.
Stavenger saß in seinem komfortablen Heim in Selene am Schreibtisch und sagte nur: »George, ich pflichte Ihnen bei, dass Chrysallis durch die Kämpfe im Gürtel gefährdet ist. Bitte lassen Sie mich wissen, was wir — Selene oder ich — für Sie tun können.«
Flaggschiff Antares
Reid Gormley war ein Karriere-Soldat. Er hatte bei der Internationalen Friedenstruppe in Asien und Afrika gedient und den bilderbuchmäßigen Angriff geführt, der die paramilitärischen Kräfte des lateinamerikanischen Drogen-Kartells vernichtet hatte. Er war in militärischen Kreisen als fähiger Kommandeur bekannt: ein Haudegen, der seinen Leuten viel abverlangte, ihnen aber auch ein Gefühl des Stolzes und der Unbesiegbarkeit vermittelte. Allerdings war er auch eitel, zaudernd und zögerte militärische Aktionen hinaus, bis er sicher war, eine erdrückende Übermacht auf seiner Seite zu haben.
Er war schon im Ruhestand gewesen und von der Astro Corporation reaktiviert worden. Der Kampf im Weltraum war ihm fremd, doch galt das gleichermaßen für jeden Kommandeur, den die großen Konzerne anstellten. Die einzigen erfahrenen Raumkämpfer waren eine Hand voll Söldner und Renegaten wie Lars Fuchs. Wie die meisten anderen erfahrenen Offiziere, denen sich plötzlich neue Karriereperspektiven eröffneten, war Gormley sich sicher, dass eine hoch motivierte, gut ausgebildete und gut ausgerüstete Truppe Söldner zu schlagen vermochte, die lediglich für Geld kämpften. Und was einsame Renegaten betraf, so würden die eingefangen und zu gegebener Zeit abgefertigt werden.
Er brauchte fast sechs Monate, um bei seiner Truppe die Einsatzbereitschaft herzustellen, die er verlangte. Wie er selbst waren die meisten Männer und Frauen in dieser Einsatzgruppe der Astro Corporation entweder Veteranen oder jüngere Leute, die sich von ihrer regulären Arbeit hatten beurlauben lassen, um die bessere Bezahlung und spannende Action zu genießen, für die der Asteroiden-Krieg bürgte.
Gormley betonte gegenüber seinen Leuten, dass sie, während die HSS-Leute nur Söldner waren und bloß für Geld kämpften, in der besten militärischen Tradition dienten und in den Kampf zogen, um den Asteroidengürtel von der Zwangsherrschaft eines Konzerns zu befreien und die im Gürtel verstreuten Bergarbeiter und Prospektoren vor der Sklaverei zu schützen. Es kam ihm nie in den Sinn, dass Humphries' Söldner das Gleiche über ihn und seine Truppen zu sagen vermochten, und zwar mit derselben Berechtigung.
Nun führte er eine Streitmacht aus vierzehn Schiffen an, die mit Hochleistungslasern bewaffnet und mit Schutt aus zerstampftem Asteroidengestein gepanzert waren. Er hatte den Auftrag, HSS-Schiffe aus dem inneren Gürtel zu vertreiben und dann eine Position in der Nähe von Vesta zu beziehen, um die Blockade und schlussendliche Einkesselung von Humphries' Hauptbasis einzuleiten.
Er hatte keine Ahnung, dass er in eine Falle flog.
Derweil in Japan Hochsommer war, war es im Kloster auf dem Dach der Welt immer noch kalt. Die Mauern waren wie Eis, wenn man sie mit den Fingerspitzen berührte. Nobuhiko Yamagata schaute durchs einzige Fenster des Raums und tröstete sich damit, dass wenigstens der Himalaja noch schneebedeckt war. Der weltweite Treibhauseffekt hatte den Schnee noch nicht zum Schmelzen gebracht.
Sein Vater kam so leise in den kleinen Raum, dass Nobu bei seinem »Hallo, Sohn« fast einen Satz gemacht hätte.
Nobu drehte sich um und sah, dass sein Vater, obwohl er lächelte, nicht richtig froh wirkte. Saito trug den üblichen Kimono. Sein rundes Gesicht schien sogar noch jugendlicher als bei Nobus letztem Besuch. Ob Vater wohl eine Verjüngungs-Therapie macht, fragte Nobuhiko sich. Er wagte es aber nicht, Saito danach zu fragen.
Der kniete sich auf die Matte am Fenster und sagte: »Wie ich soeben erfahren habe, wurde einer unserer loyalen Agenten zusammen mit seiner Frau und den Kindern ermordet.«
Nobu blinzelte überrascht und verwirrt und kniete sich neben seinem Vater hin.
»Ermordet?«
»Der Mann, der den Auftrag hatte, dafür zu sorgen, dass Pancho Lane beim Seilbahn-Zwischenfall nicht getötet wurde«, erklärte Saito knapp.
»Das ist doch Monate her.«
»Die Frau und die Kinder?«, fragte Saito schroff. »Weshalb?«
»Unsere Sicherheitsleute hielten das für nötig«, sagte er und massierte sich nervös die Beine. »Die Astro Corporation durfte auf gar keinen Fall herausfinden, dass wir den Unfall verursacht hatten.«
»Er war ein loyaler Angestellter.«
»Ich habe die Exekution nicht veranlasst, Vater. Ich habe erst hinterher davon erfahren.«
Saito stieß ein leises, knurrendes Grunzen aus.
»Der Zwischenfall hat immerhin seinen Zweck erfüllt«, sagte Nobu in der Hoffnung, dass sein Vater das gutheißen würde. »Er hat die Kette von Ereignissen ausgelöst, die zum totalen Krieg zwischen Astro und Humphries Space Systems führt.«
Saito nickte, aber sein unzufriedener Ausdruck änderte sich nicht.