»Richtig.«
Nachdenklich putzte Wanamaker sich die klebrigen Finger mit einer Serviette ab und setzte ein spitzbübisches Grinsen auf. »Wir würden nicht einmal bemannte Schiffe brauchen. Nur ein paar Vögel automatisieren und sie in weiten Orbits ums Erde/Mond-System abstellen.«
»Sie könnten das tun?«
Er nickte. »Sie wären nah genug, um von Selene aus ferngesteuert zu werden. Das käme billiger als der Einsatz bemannter Schiffe.«
Pancho hatte nur noch eine weitere Frage. »Wann könnten wir damit anfangen?«
Wanamaker schob seinen Stuhl vom Tisch zurück und erhob sich. »Bald«, versicherte er. »Sogar sehr bald.«
Pancho sah ihn eilig entschwinden und sagte sich, nun brauche ich Lars doch nicht. Ist egal, wo er sich versteckt. Ich brauche ihn jetzt nicht mehr.
Später am Morgen schlüpfte Pancho mit einigem Widerwillen in den Softsuit und versiegelte die Naht, die über die ganze Vorderseite verlief. Doug Stavenger steckte schon in seinem Anzug. Auf Pancho wirkte er wie eine in Kunststofffolie eingeschweißte Wurst, wäre da nicht der Kugelhelm gewesen, den er in den Armen hielt.
»Dieses Ding funktioniert wirklich?«, fragte sie und nahm ihren Helm vom Regal im Spind.
Stavenger nickte lächelnd. »Er ist schon seit Monaten getestet worden, Pancho. Ich selbst habe ihn auch schon ein paar Mal im Freien getragen. Sie werden ihn schätzen, ihn lieben.«
Sie war absolut nicht überzeugt. Fliege niemals in einem neuen Flugzeug, wie sie sich an ihre Anfänge als Pilotin erinnerte. Geh nie an dem Tag, an dem ein neues Restaurant eröffnet wird, dort essen.
»Ziemlich dünn«, sagte sie und zupfte mit behandschuhten Fingern am transparenten nanogefertigten Gewebe.
»Aber es funktioniert wie ein Wundermantel.«
»Soll das heißen, man muss ein Gebet zu ihm sprechen?«
Stavenger lachte. »Kommen Sie, Pancho. Sobald wir draußen sind, werden Sie sich fragen, wie Sie es jemals in diesen sperrigen Hartschalen-Anzügen ausgehalten haben.«
»Uh-huh.« Sie sah die Begeisterung in seinen Augen, in seinem Lächeln, in seiner ganzen Körpersprache. Er ist wie ein Kind mit einem neuen Spielzeug, sagte sie sich.
Aber er hatte Recht. Zu Fuß waren es etwa zehn Minuten von der Luftschleuse in Selene zur Fabrik Nummer Elf auf dem Boden des riesigen Kraters Alphonsus. Es waren noch keine fünf Minuten um, da hatte Pancho sich schon in den Softsuit verliebt.
»Das ist toll«, sagte sie zu Stavenger, während sie neben ihm her schlurfte. Seine Stiefel wirbelten kleine Staubwolken auf. »Man hat fast das Gefühl, überhaupt keinen Anzug zu tragen.«
»Ich hab's Ihnen doch gesagt, oder?«
Pancho hielt beide Hände vor sich und bewegte die Finger. »Wirklich toll! Sogar die Handschuhe sind leicht beweglich. Das grenzt an Zauberei!«
»Keine Zauberei. Nur Nanotechnik.«
»Und der Strahlenschutz?«
»Ist etwa der gleiche wie in einem Hartschalenanzug«, sagte Stavenger. »Wir könnten die elektromagnetische Abschirmung noch zuschalten, aber das würde wahrscheinlich viel Staub vom Boden anziehen.«
Sie nickte.
»Bei einem kurzen Aufenthalt an der Oberfläche kann Ihnen nichts passieren«, fuhr Stavenger fort. »Bei einem Weltraum-Spaziergang können die Anzüge durch ein elektromagnetisches System ergänzt werden.«
»Doug, alter Freund«, sagte Pancho, »was würden Sie davon halten, mit Astro einen Vertrag über die Herstellung und Lieferung dieser Softsuits zu schließen?«
Er lachte. »Nein danke, Pancho. Selene wird dieses Produkt entwickeln. Wir werden es ziemlich nah am Selbstkostenpreis verkaufen.«
Pancho wusste, was er eigentlich damit sagen wollte. Wenn Selene mit Astro einen Liefervertrag für die Anzüge schloss, würde Humphries sich beschweren. Und wenn Selene mit HSS ins Geschäft kam, hätte Astro etwas dagegen. Sie nickte. Sollte Selene das besser selbst regeln. Zumal die Gewinne dazu beitragen würden, die Steuern für Selenes Bürger niedrig zu halten.
Das flache Kuppeldach der Fabrik zeichnete sich vor ihnen ab. Stavenger und Pancho erklommen die Treppe zum Rand des starken Betonfundaments der Fabrik und gingen durch die ›Waschanlage‹, die spezielle Luftschleuse, die die Anzüge von Staub und anderen Verunreinigungen befreite, bevor sie den Ultrareinraum der eigentlichen Fabrik betreten durften. Pancho spürte, wie die Dampfstrahler und Bürsten sie brutal malträtierten.
»He, Doug«, keuchte sie. »Ihr müsst die Dinger ein paar Stufen runterschalten.«
Seine Stimme in ihrem Helmkopfhörer klang verwirrt. »Wir haben sie doch schon zurückgesetzt, Pancho. Es hätte Sie glatt umgehauen, wenn wir sie auf derselben Stufe wie für die Hartschalenanzüge gelassen hätten.«
Pancho musste erst einmal zu Atem kommen, nachdem sie die Waschanlage verlassen hatten und auf dem Fabrikboden standen. Als Stavenger — auch schwer atmend — zu ihr kam, schaute sie auf die beiden fertig gestellten Raumschiffe. Die Diamantrümpfe muteten düster an, wie Phantome, die unter dem gewölbten Dach der Fabrik lauerten.
»Das sind sie«, sagte Stavenger gepresst. »Eins für Sie, und eins für Humphries.«
Sie verstand durchaus seine Anspannung. »Zwei brandneue Kriegsschiffe. Dann machen wir uns auf und bringen noch ein paar Söldner zur Strecke.«
Stavenger sagte nichts.
»Wir haben einen Vertrag über sechs weitere, nicht wahr?«, fragte sie.
»Ja«, sagte Stavenger nach einer Weile. »Und wir bauen genauso viele für Humphries.«
»Wer auch immer gewinnt, Selene verdient Geld damit.«
»Das gefällt mir nicht, Pancho. Das gefällt mir überhaupt nicht. Wenn ich den Regierungsrat davon überzeugen könnte, von diesen Verträgen zurückzutreten, würde ich es tun.«
»Mir gefällt es auch nicht, Doug. Aber was sollen wir denn sonst tun? Dem Stecher etwa das ganze Sonnensystem überlassen?«
Er schwieg wieder.
Eine Pattsituation, sagte Pancho sich, während sie stumm zur Luftschleuse von Selene zurückstapften. Selene will, dass keiner von uns gewinnt. Sie wollen nicht, dass eine Seite die andere schlägt und Herr des Sonnensystems wird. Selbst wenn Astro gewinnt, wenn ich gewinne, wird Selene eine Heidenangst haben, dass sie unter meiner Fuchtel stehen werden. Doug will, dass Humphries und Astro sich bis zur Erschöpfung bekämpfen, und dann wird er auf den Plan treten und den Friedensstifter spielen.
Also tun sie ihr Bestes, um das Gleichgewicht der Kräfte zu wahren. Sie werden kein Kriegsschiff für Humphries bauen, ohne auch eins für Astro zu bauen. Chancengleichheit, sagt Doug. Hält uns in einer Pattsituation, so sieht's aus.
Es muss doch einen Ausweg geben; irgendeine Möglichkeit, einen Vorteil zu erlangen und den Stecher zu schlagen, bevor wir beide so zermürbt sind, dass unsere Unternehmen den Bach runtergehen.
Wenn ich Lars dazu bewegen könnte, uns zu helfen, sagte sie sich. Er wäre das Zünglein an der Waage. Aber der Scheißer ist verschwunden. Was hat er vor? Wieso hat er mich im Stich gelassen?
Pancho schüttelte den Kopf unterm Kugelhelm und sagte sich: Wir brauchen eine externe Kraft, einen Partner, einen Verbündeten. Jemand, der die Waage zugunsten von Astro zu neigen vermag. Humphries ausmanövrieren. Ihn überwältigen. Einen Weg, HSS in die Zange zu nehmen.
Dann hatte sie eine Idee. Nairobi! Dieser Typ von Nairobi Industries wollte doch eine strategische Allianz mit Astro. Ich frage mich, ob er noch interessiert ist? Ich werde ihn kontaktieren müssen, sobald ich wieder im Büro bin — wie war noch gleich sein Name?
Kommandozentrale der Astro-Corporation
Die Kommandozentrale von Jake Wanamaker bestand aus ein paar Büroräumen, die vom eigentlichen Hauptquartier der Astro Corporation abgeteilt waren. Wanamaker sagte sich mit Sarkasmus, dass Humphries Astro größeren Schaden zu weitaus geringeren Kosten zuzufügen vermochte, indem er diese Büros angriff und den militärischen Stab des Konzerns auslöschte. Doch auch im Krieg gibt es Regeln, und eine der Grundregeln dieses Konflikts besagte, dass Gewalt auf dem Mond tabu war. Die Seite, die gegen diese Regel verstieß, würde sich Selene mit seinen beträchtlichen finanziellen und industriellen Ressourcen in diesem Kampf zum Feind machen.