Sie wusste, was er meinte, drang aber dennoch in ihn: »Wieso sagen Sie das?«
»Sie wollen mich als Besatzungsmitglied auf einem Ihrer HSS-Schiffe anheuern, stimmt's?«, fragte der Bergmann mit säuerlicher Miene. »Aber jeder weiß doch, dass HSS und Astro einen Kampf im Gürtel austragen. Fast jeden Tag werden Leute getötet. Da hänge ich lieber weiter hier in Chrysallis rum und warte auf einen vernünftigen Job.«
»Es gibt viele arbeitslose Bergarbeiter hier«, sagte Ferrer.
»Ja, weiß ich. Ein paar wurden entlassen — wie ich. Ein paar haben selbst gekündigt, weil der Gürtel langsam ein zu heißes Pflaster wird. Ich glaube, dass ich warten werde, bis ihr euren Krieg beendet habt. Sobald die Schießerei aufhört, werde ich wieder an die Arbeit gehen.«
»Das könnte aber ein langes Warten werden«, gab sie zu bedenken.
Er nickte. »Ich würde lieber langsam verhungern, anstatt plötzlich getötet zu werden«, erwiderte er mit gerunzelter Stirn.
Ferrer gab sich geschlagen. »Na gut. Wenn Sie Ihre Meinung doch noch ändern sollten, setzen Sie sich bitte mit uns in Verbindung.«
Der Bergmann stand eilig auf, als sei er froh, endlich gehen zu dürfen. »Verlassen Sie sich nicht darauf«, sagte er.
Ferrer führte an diesem Nachmittag noch zwei Interviews mit genau demselben Ergebnis. Bergarbeiter und Prospektoren gaben ihre Jobs auf, um vor den Kämpfen zu fliehen. Chrysallis füllte sich mit arbeitslosen Felsenratten. Die meisten hatten ihre kümmerlichen Ersparnisse bereits aufgebraucht und waren nun auf das kärgliche Arbeitslosengeld angewiesen, das Chrysallis' Regierungsrat ihnen gewährte. Kaum jemand war bereit, eine Stelle an Bord eines HSS-Schiffs anzutreten. Aber auch nicht bei Astro, wie Ferrer mit einer gewissen Genugtuung feststellte. Von den vierzehn Männern und Frauen, die bei ihr zu einem Vorstellungsgespräch erschienen waren, hatten nur zwei sich verpflichtet — alleinerziehende Mütter. Alle anderen hatten ihr Angebot rundweg abgelehnt.
Lieber langsam verhungern, als plötzlich getötet zu werden. Das war ihre einhellige Meinung.
Ferrer saß am Ende des Tages allein in ihrem Büro. Ich werde Humphries Bericht erstatten müssen, sagte sie sich und seufzte schwer. Es wird ihm nicht gefallen, was ich ihm zu berichten habe.
Levinson war froh, wieder aus dem Raumanzug zu sein. Fröhlich pfeifend ging er von der Luftschleuse des Fusionsschiffs zur Kabine, die man ihm zugewiesen hatte. In zwei Tagen sind wir wieder in Ceres, und dann fliegen Vickie und ich mit einem Fusionsschiff zurück nach Selene. Ich wette, wir verbringen den ganzen Flug zusammen in der Koje.
»Man soll an Bord eines Schiffs nicht pfeifen«, sagte eine Technikerin, die hinter ihm den Gang entlangkam. »Man sagt, das bringt Unglück.«
Levinson grinste sie an. »Das ist ein alter Aberglaube«, sagte er.
»Nein, ist es nicht. Es geht auf die Zeit der Segelschiffe zurück, als Befehle mit einer Pfeife gegeben wurden. Deshalb sollte die Besatzung nicht außer der Reihe pfeifen, um das System der Nachrichtenübermittlung nicht zu stören.«
»Spielt hier aber keine Rolle mehr«, sagte Levinson von oben herab.
»Trotzdem gilt es …«
»NOTFALL«, plärrte der Deckenlautsprecher. »DRUCKVERLUST IN DER HAUPTLUFTSCHLEUSEN-ABTEILUNG.«
Das Blut gefror Levinson in den Adern. Die luftdichte Luke des Durchgangs schlug zu. Er bekam weiche Knie.
»Mach dir nicht in die Hose«, sagte die Technikerin mit einem anzüglichen Grinsen. »Das ist wahrscheinlich nur ein kleiner Defekt.«
»Aber die Luke. Wir sind hier gefangen.«
»Nein. Du kannst die Luke manuell öffnen und in deine Unterkunft gelangen. Kein Grund, dich nass zu machen.«
In diesem Moment schwang die Luke auf, und zwei Crew-Mitglieder schoben sich in Richtung Luftschleuse an ihnen vorbei. Sie wirkten eher gereizt als erschrocken.
Levinson, der sich nur unwesentlich besser fühlte, folgte der Technikerin durch die Luke zu seiner Koje. Als die Luke automatisch wieder zuschlug, machte er einen Satz wie ein erschrecktes Kaninchen.
Er öffnete gerade die Faltschiebetür, als der Deckenlautsprecher blökte: »DR. LEVINSON SOFORT AUF DER BRÜCKE MELDEN.«
Levinson wusste nicht genau, wo die Brücke war, aber er glaubte, dass es der Gang weiter oben war, der durch das Wohnmodul verlief. Er lief an zwei weiteren geschlossenen Luken vorbei, wobei ihm das Blut in den Ohren rauschte, und betrat schließlich das, was offensichtlich die Brücke war. Der Kapitän des Schiffes stand mit dem Rücken zur Luke — halb über die Rückenlehnen zweier Stühle gebeugt, auf denen Besatzungsmitglieder saßen. Alle drei Männer beobachteten aufmerksam die Anzeigen an der Schalttafel.
Die Luke schlug hinter ihm zu, und er zuckte wieder zusammen. Der Kapitän wirbelte mit grimmigem Gesicht zu ihm herum.
»Es sind Ihre gottverdammten Wanzen! Sie fressen mein Schiff auf!«
Levinson wusste, dass das nicht wahr sein konnte. Diese Raketenaffen mit ihren Erbsenhirnen! Immer wenn irgendetwas schief geht, machen sie den nächsten Wissenschaftler dafür verantwortlich.
»Die Nanomaschinen sind auf dem Asteroiden«, sagte er mit großer Ruhe und Würde. »Oder was davon noch übrig ist. Sie können unmöglich an Bord Ihres Schiffs sein.«
»Sind sie doch, zum Teufel!«, brüllte der Kapitän und wies anklagend mit dem Finger auf die Anzeigen der Konsole. Levinson sah die roten Lampen.
»Sie konnten doch nicht …«
»Sie waren in dieser Staubwolke, stimmt's?«
»Nun ja, vielleicht ein paar«, gestand er.
»Und das lose Ende Ihrer abgefuckten Leine ist in der Wolke herumgeschlackert, richtig?«
Levinson setzte zu einer Antwort an, doch sein Mund war so trocken, dass er kein Wort hervorbrachte.
»Sie haben die verfluchten Scheißdinger in mein Schiff eingeschleppt, verdammt noch mal!«
»Aber … aber …«
»Die Biester fressen die Luftschleusen-Abteilung auf! Sie nagen das Metall der Hülle an, um Gottes willen!« Der Kapitän kam mit geballten Fäusten und zornrotem Gesicht auf Levinson zu. »Sie müssen sie aufhalten!«
»Sie werden von selbst wieder aufhören«, sagte Levinson. Er wich einen Schritt zurück und stieß gegen die geschlossene Luke. »Ich habe eine Zeitschaltung in sie integriert. Sobald das Zeitlimit erreicht ist, geht ihnen die Energie aus, und sie schalten sich von selbst ab.«
Der Kapitän holte tief Luft. Sein Gesicht nahm fast wieder die normale Farbe an. »Sie werden gestoppt?«
»Ja, Sir«, sagte Levinson. »Automatisch.«
»Und wann?«
Levinson schluckte. »In achtundvierzig Stunden«, würgte er heraus.
»Achtundvierzig Stunden?«, brüllte der Kapitän.
Levinson nickte und duckte sich.
Der Kapitän wandte sich wieder den zwei an der Konsole sitzenden Besatzungsmitgliedern zu. »Nehmt Kontakt mit Chrysallis auf. Schildert ihnen unsere Situation.«
»Sollen wir ihnen sonst noch etwas mitteilen, Sir?«, fragte das Besatzungsmitglied auf dem linken Sitz.
Der Kapitän verharrte für einen Moment in stiller Wut und murmelte dann: »Ja. Verlest euren letzten Willen. Wir werden hier sterben. Wir alle.«
Levinson machte sich nun doch in die Hose.
Letzte Riten
Levinson hatte noch nie solche Angst gehabt. Er wankte zu seiner Koje zurück und schloss nach drei vergeblichen Versuchen mit zittrigen Händen die Tür. Dann zerrte er den Palmcomp aus dem Overall, wobei er die Naht an der Tasche aufriss, und rief die Zahlen auf, die er für die Berechnung der restlichen Lebensdauer des Fusionsschiffes brauchte.
Der winzige Winkel des Bewusstseins, der noch rational funktionierte, sagte ihm jedoch, dass die Berechnungen sinnlos waren. Er wusste nicht mit Bestimmtheit, wie schnell die Nanomaschinen das Schiff auseinander nahmen, und hatte auch nur eine vage Vorstellung davon, wie massiv das Schiff war. Du rückst lediglich die Deckstühle auf der Titanic zurecht, sagte er sich. Aber er wusste, dass er etwas — irgendetwas — tun und versuchen musste, die schreckliche Gefahr abzuwenden, der er ins Gesicht sah.