Wir könnten es in weniger als achtundvierzig Stunden bis nach Ceres schaffen, sagte er sich, wenn der Kapitän mit voller Kraft fährt — falls die Nanomaschinen die Triebwerke nicht vorher zerstören. Angenommen, wir erreichen Ceres und das Habitat Chrysallis — dann werden sie uns aber nicht reinlassen, weil sie Angst haben, dass die Nanos sie auch beschädigen.
Aber die Nanos werden sich in achtundvierzig Stunden selbst abschalten, erinnerte Levinson sich. Zumal von dieser Frist schon einige Zeit verstrichen war; es ist schon etwa zwei Stunden her, seit wir sie auf dem Asteroiden verstreut haben.
Wie schnell fressen sie das Schiff wohl auf, fragte er sich. Vielleicht kann ich ein paar Messungen durchführen, um wenigstens eine annähernde Vorstellung von ihrem Tempo zu bekommen. Dann könnte ich …
Er beendete den Satz nie. Die gewölbte Luke des Abteils, die der Krümmung der Schiffshülle folgte, platzte plötzlich auf. Levinson sah in stillem Entsetzen, wie ein Metallstück vor seinen hervorquellenden Augen sich auflöste. Die Luft entwich mit einer solchen Kraft aus der Kabine, dass er auf die Knie fiel. Die Lunge kollabierte, und er brach auf dem Metalldeck der Kabine zusammen. Blut strömte aus jeder Pore. Er war mausetot, als seine Nanomaschinen sich anschickten, auch ihn Molekül für Molekül auseinander zu nehmen.
Martin Humphries sprach mit seinem sechsjährigen Sohn, Alex, auf dem Familiensitz in Connecticut.
»Van weint die ganze Zeit«, sagte Alex mit einem traurigen Gesicht. »Der Arzt sagt, dass er sehr krank ist.«
»Ja, das ist wahr«, sagte Humphries pikiert. Er hatte sich eigentlich über andere Dinge unterhalten wollen als über seinen verkümmerten jüngeren Sohn.
»Kann ich dich besuchen kommen?«, fragte Alex nach der Drei-Sekunden-Verzögerung zwischen Erde und Mond.
»Natürlich«, sagte Humphries. »In den Sommerferien darfst du für eine Woche hier heraufkommen. Du kannst Spaziergänge auf der Mondoberfläche machen und Niedergravitations-Spiele lernen.«
Er betrachtete das Gesicht seines Sohns; genauso hatte er selbst in diesem Alter auch ausgesehen. Ein strahlendes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Jungen, als er die Worte seines Vaters hörte.
»Mit dir, Dad?«
»Sicher — entweder mit mir oder einem meiner Mitarbeiter. Du kannst …«
Die gelbe Lampe, die einen eingehenden Anruf signalisierte, blinkte. Humphries hatte ausdrücklich gesagt, dass er nicht gestört werden wollte — es sei denn, jemand hatte eine Katastrophe zu melden. Er schaute grimmig auf die Lampe, als ob er sie damit zum Erlöschen bringen konnte.
»Ich muss nun Schluss machen, Alex. Ich werde dich morgen oder so wieder anrufen.«
Er trennte die Verbindung und sah nicht den verletzten und enttäuschten Ausdruck im Gesicht seines Sohnes.
Wer auch immer anrief, hatte seinen privaten Code. Und die Nachricht wurde zerhackt, wie er sah. Mit vor Ungeduld finsterem Blick befahl Humphries dem Computer, die Nachricht zu öffnen.
Victoria Ferrers dreidimensionales Gesicht erschien im Hologramm über seinem Schreibtisch. Sie machte einen müden und deprimierten Eindruck.
»Ich bin mit einem Fusionsschiff auf dem Rückweg nach Selene«, sagte sie. »Noch zu weit für ein Zwei-Wege-Gespräch, aber ich weiß, dass Sie die schlechten Nachrichten sofort werden hören wollen.«
Er wollte sie schon fragen, wovon sie überhaupt sprach — bis ihm bewusst wurde, dass seine Frage ihr frühestens in zwanzig Minuten zu Ohren kommen würde.
»Das Nanomaschinen-Experiment ist gescheitert. Die Nanos haben das Schiff kontaminiert und es völlig zerstört. Es ist nichts mehr davon übrig außer einer Wolke von Atomen. Alle sind dabei umgekommen, einschließlich Levinson.«
Sie nannte ihm noch ein paar Details und sagte dann: »Ach, übrigens, die Rekrutierung war auch ein ziemlicher Flop. Diese Felsenratten sind zu schlau, um sich freiwillig als Kanonenfutter zu melden.«
Ihre Nachricht endete.
Humphries lehnte sich auf dem Schreibtischstuhl zurück und starrte auf den Wandbildschirm, der ein Hologramm von Jupiters bunten Wolkenwirbeln zeigte.
Sie haben das Schiff völlig zerstört und jeden an Bord getötet, wiederholte er stumm. Was für eine Waffe diese kleinen Viecher doch sind!
Erzfrachter Starlight
Die Starlight war ein unabhängiger Frachter. Seit Jahren hatte er zwischen Ceres und Selene verkehrt, Erzladungen im Gürtel übernommen und sie dann auf einer langen Ellipse gemächlich zu den wartenden Fabriken auf dem Mond und im Erdorbit transportiert. Seine Eigner, ein Ehepaar aus Murmansk, hatten die großen Konzerne konsequent gemieden; sie hatten es vorgezogen, mit dem Transport von Erz einen bescheidenen Lebensunterhalt zu verdienen und sich ansonsten aus allem herauszuhalten. Ihre Besatzung bestand aus zwei Söhnen mitsamt Schwiegertöchtern. Auf der letzten Reise nach Selene hatten sie sich eine Woche länger Zeit gelassen als sonst üblich, damit ihr erstes Enkelkind — ein Mädchen — in einer Klinik der Mondstadt zur Welt kam. Und nun kehrten sie, nachdem sie mit dem schreienden Baby zum Gürtel geflogen waren, wieder nach Selene zurück. Sie waren froh, den Kämpfen zu entkommen, bei denen schon so viele Astro- und HSS-Schiffe vernichtet worden waren.
Die Astro-Drohne hatte keinen Namen, bloß eine Kennung: D-6. Das D stand für Destroyer, Zerstörer. Es handelte sich um einen automatisierten Flugkörper, der von den Astro-Büros in Selene ferngelenkt wurde. Die Controller hatten die Anweisung, alle HSS-Schiffe anzugreifen, die sich dem Mond näherten. Die Controllerin, die an diesem Morgen Dienst tat, hatte eine Liste von HSS-Schiffen im Computer: komplett mit Namen, Leistungsdaten und Bauart-Spezifikationen. Sie hielt die Starlight für einen getarnten Humphries-Frachter und verbrachte den größten Teil des Morgens damit, das Schiff mit Radar- und Laser-Sonden abzutasten.
Astros Kommandozentrale wurde natürlich vor Humphries' Leuten geheim gehalten und auch vor Selenes Regierung, die darauf bestand, dass keinerlei Kampfhandlungen auf ihrem Hoheitsgebiet stattfanden. Also beobachtete die Controllerin die Starlight passiv, ohne zu versuchen, eine Funkverbindung mit dem Frachter herzustellen oder sich auch nur bei der Internationalen Astronauten-Behörde bezüglich Registrierung und Identität des Schiffs zu vergewissern.
Immerhin musste man der Controllerin zugute halten, dass sie D-6 anwies, Nahaufnahmen des sich nähernden Frachters zu machen. Leider war die Programmierung des Zerstörers noch neu und unerprobt; die Drohne war zu schnell in den Einsatz geschickt worden. Der Bordcomputer interpretierte den Befehl der Controllerin falsch. Statt mit einem schwachen Laserscan traf der Zerstörer die Starlight mit einem hochenergetischen Laserstrahl, der das Wohnmodul des Schiffes in der Mitte durchsägte und jeden an Bord tötete.
Pancho war gerade zum Südpol des Mondes unterwegs, als die Nachricht vom Starlight-Fiasko sie erreichte.
Sie flog in einer Rakete auf einer ballistischen Flugbahn zum Astro-Kraftwerk, das auf dem höchsten Berg der Malapert Range errichtet worden war. Der breite, sattelförmige Gipfel von Dickson — der höher war als der Everest — war wie die benachbarten Gipfel immer in Sonnenlicht getaucht. Astro-Arbeiter hatten die Bergspitze mit photo-voltaischen Zellen verkleidet. Die Elektrizität, die sie erzeugten, wurde durch kryonisch gekühlte Leitungen aus Mondaluminium über fast fünftausend Kilometer über das zerklüftete, kraterübersäte Hochland nach Selene transportiert.