Für die paar Minuten des parabelförmigen Fluges der Rakete nach Süden hing die Hand voll Passagiere schwerelos in den Sicherheitsgurten. Zu ihrer Überraschung verspürte Pancho eine leichte Übelkeit. Du bist zu lang hinter dem Schreibtisch gesessen, Mädchen, sagte sie sich. Das zukünftige Wachstum des Mondes würde mit größter Wahrscheinlichkeit in den Polarregionen stattfinden. Es gibt dort Wasservorkommen, und die Kraftwerke dort werden immer von der Sonne beschienen. So wäre eine kontinuierliche Energieversorgung gewährleistet — außer bei einer Erdfinsternis —, doch das würde nur ein paar Minuten pro Jahr ausmachen. Es war ein Fehler gewesen, Selene in der Nähe des Äquators zu bauen.
Es hatte aber als eine Regierungsoperation angefangen. Moonbase. Irgendein Erbsen zählender Bürokrat hatte geglaubt, ein paar Pennys Treibstoffkosten einsparen und in Äquatornähe anstatt in einer Polarregion bauen zu müssen. Man wählte Alphonsus aus, weil es Schlote im Boden des Kraters gab, aus denen hin und wieder Methan ausgaste. Eine Milchmädchenrechnung! Wasser wird gebraucht, und die Eisvorkommen an den Polen beherbergen das Wasser. Und selbst das ist nicht genug. Wir müssen Wasser von den Felsenratten kaufen.
Als das Raketenflugzeug die Bremsraketen zündete und zur Landung auf dem Astro-Stützpunkt ansetzte, warf Pancho noch einen Blick aus dem Fenster auf die Baustelle im Shackleton Krater, die etwas mehr als hundert Kilometer entfernt war. Nairobi hat das benötigte Geld aufgetrieben, sagte sie sich. Sie hatte ihren Fortschritt in den Wochenberichten verfolgt, die ihr Personal erstellte, doch der Anblick der realen Anlage, die auf dem Kraterboden sich ausdehnte, beeindruckte sie mehr als alle schriftlichen Berichte oder Bilder. Woher haben die das Geld, fragte sie sich. Ihre besten Ermittler waren nicht fähig gewesen, eine zufrieden stellende Antwort zu finden.
Sie hatte einen der neuen Nanomaschinen-Raumanzüge dabei — er lag zusammengefaltet in der Reisetasche. Stavenger hatte sie auch mit einem Nanogewebe-Helm ausgerüstet, den man wie einen Luftballon aufblasen konnte. Pancho hatte ihn zwar eingepackt, war aber entschlossen, einen herkömmlichen Kugelhelm zu benutzen, wenn sie schon den Softsuit tragen musste.
Es bestand aber keine Notwendigkeit für einen Raumanzug. Bei der Landung der ballistischen Rakete schlängelte ein flexibler Tunnel sich von der Hauptluftschleuse der Basis zur Schiffsluke. Pancho ging auf dem schwammartigen Boden zur Luftschleuse, wo der Stützpunkt-Kommandant schon auf sie wartete. Er wirkte etwas nervös, weil er nicht genau wusste, wieso der CEO des Konzerns diese Stippvisite in seinen Zuständigkeitsbereich unternahm.
Pancho ließ sich von ihm durch die Basis führen; sie unterschied sich kaum von den anderen Einrichtungen auf dem Mond, die sie bereits gesehen hatte. Die Anlage befand sich fast völlig unter der Mondoberfläche; die Arbeiten an der Oberfläche, die in der Wartung der Solarzellen und Fertigung neuer Elemente bestanden, wurden von Robotern erledigt, die aus der Sicherheit der unterirdischen Büros ferngesteuert wurden.
»Leider können wir Ihnen hier unten nicht den gleichen Luxus wie in Selene bieten«, erklärte der Stützpunkt-Kommandant, »aber die Grundbedürfnisse vermögen wir durchaus zu erfüllen.«
Sprach's und führte Pancho in einen kleinen, niedrigen Konferenzraum, in dem sich bereits seine hochrangigen Mitarbeiter versammelt hatten. Sie fieberten der Begegnung mit der Vorstandsvorsitzenden entgegen und vermochten es kaum zu erwarten, den Grund für ihren Besuch zu erfahren. Der Konferenztisch war mit belegten Broten und Getränken bestückt, und mitten auf dem Tisch war ein maßstabsgetreues Modell der Basis platziert.
Weil es nicht genug Stühle für alle gab, blieb Pancho stehen. Sie aß ein Sandwich, nippte an einem Plastikbecher mit Fruchtsaft und plauderte ungezwungen mit den Leuten — von denen keiner sich zu setzen wagte, während der CEO stehen blieb.
Schließlich stellte sie den leeren Saftbecher auf den Tisch. Wie aufs Stichwort verstummten alle Gespräche, und alle drehten sich zu ihr um.
Sie grinste sie an. »Ihr fragt euch sicher, wieso ich bei euch hereinschneie«, sagte Pancho in ihrem Westtexas-Akzent, um eine entspannte Atmosphäre zu schaffen.
»Es kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass die Vorstandsvorsitzende des Unternehmens uns einen Besuch abstattet«, erwiderte der Stützpunkt-Kommandant. Ein paar Leute kicherten nervös.
»Nun«, sagte Pancho, »um die Wahrheit zu sagen, ich bin neugierig, was eure neuen Nachbarn so vorhaben. Weiß jemand von euch, wie ich eine Einladung für den Nairobi-Komplex bekomme?«
Selene: Nachrichten-Meidazentrum
Trotz des ziemlich pompösen Titels war das Nachrichten-Mediazentrum kaum mehr als eine Büroflucht mit normalgroßen Räumen — die meisten davon mit Sendeausrüstung angefüllt — und einem geräumigen Studio, das groß genug war, mehrere Videos gleichzeitig zu produzieren.
Edith Stavenger wartete ungeduldig neben der Doppeltür des Studios, während die Kamera-Crew die letzte Sequenz eines Schulungsvideos für die neuen Softsuits abdrehte. Eine Frau, die im wirklichen Leben einen Traktor an der Oberfläche fuhr, fungierte als ›Model‹ und demonstrierte, mit welcher Leichtigkeit man den Anzug anlegen und die Vorderseite schließen konnte.
Vor vielen Jahren war Edith Stavenger noch Edie Elgin gewesen und hatte als Nachrichtenkorrespondentin in Texas gearbeitet — damals, als die Mannschaft für die erste menschliche Expedition zum Mars trainiert wurde. Während des kurzen, fast unblutigen Unabhängigkeitskampfs des Mondes war sie als Reporterin dorthin geflogen. Sie hatte Douglas Stavenger geheiratet und war nicht zur Erde zurückgekehrt. Sie hatte noch die dynamische, jugendliche Schönheit einer Cheerleaderin mit goldblondem Haar und einem strahlenden Lächeln, bei dem sie schöne weiße Zähne zeigte. Durch Verjüngungstherapien, die von Hautzellen-Regenerierung bis Hormonbehandlung reichten, hatte sie noch immer einen klaren Blick und ein agiles Auftreten. Man munkelte, dass sie sich — wie ihr Ehemann — Nanomaschinen hätte spritzen lassen, doch das hatte Edith nicht nötig; Zell-Biochemie war ihr Jungbrunnen.
Sie hatte eine Zeit lang als Medienintendantin von Selene gearbeitet, war dann aber auf Betreiben ihres Mannes als Beraterin in den Vorruhestand gegangen. Doug Stavenger wollte nämlich keine Dynastien in der politischen oder sozialen Struktur von Selene, und Edith stimmte darin mit ihm überein. Also füllte sie die Stelle als Beraterin aus und versuchte sich nach Möglichkeit aus dem Nachrichten-Geschäft von Selene herauszuhalten.
Nun hatte sie aber einen Grund, sich einzuschalten, und vermochte es kaum noch zu erwarten, dass der Medienintendant die Szene beendete, bei der er persönlich Regie führte.
Das junge Model nahm den Kugelhelm ab und drückte das durchsichtige aufblasbare Gewebe zusammen. Dann öffnete sie den Softsuit, pellte ihn von den Armen und ließ ihn mit den Hüften wackelnd an sich heruntergleiten. Sie wäre sogar erotisch, sagte Elgin sich, wenn sie nicht diesen Overall trüge.
Schließlich war die Szene im Kasten. Die Crew schaltete die tragbaren Kameras aus, und der Medienintendant drehte sich um und ging zur Tür.
»Edie!«, rief er. »Ich wusste gar nicht, dass Sie hier sind.«
»Wir müssen reden, Andy.«
Der Name des Medienintendanten war Achmed Mohammed Wajir, und obwohl er seine familiären Wurzeln im Kongo wähnte, war er in Syrien geboren und hatte seine Kindheit und Jugend im ganzen Nahen und Mittleren Osten verbracht. Seine Kindheit war das Zigeunerleben eines Diplomatensohns gewesen: nie länger als zwei Jahre in derselben Stadt. Sein Vater hatte ihn nach Princeton geschickt, wo er die alten Sprachen studieren sollte, doch stattdessen hatte der junge Achmed ein Faible für den Journalismus entwickelt. Er ging nach New York und absolvierte die Ochsentour durch den Journalismus, bis eine Terroristenbombe ihm beide Beine zerschmetterte. Er war nach Selene gekommen, um sich einer Nanotherapie zu unterziehen, die die Beine reparierte, doch der Rückweg zur Erde war ihm versperrt, solange er Nanomaschinen im Leib hatte. Schließlich entschied Wajir sich dafür, in Selene zu bleiben. Das Sechstel Ge des Mondes beschleunigte die Heilung, zumal die Konkurrenz im neuen Geschäft hier noch geringer war als die Schwerkraft.