Der ›Müll‹ war jedoch ein Schatz für die verzweifelte, Not leidende Menschheit. Die Erde war vom Klimakollaps schwer getroffen worden, einem Treibhauseffekt, der seit ein paar Jahrzehnten verheerende Auswirkungen hatte. Gletscher schmolzen, der Meeresspiegel stieg an, weltweit wurden Küstenstädte überflutet, die globale Stromversorgung brach zusammen, Hunderte Millionen Menschen verloren ihre Heimat, ihre berufliche Existenz und sogar das Leben. Ackerland wurde durch anhaltende Dürre zur Wüste; Wüsten verwandelten sich durch Wolkenbrüche in Sümpfe, und schwere Stürme suchten überall die verängstigten und verhungernden Flüchtlinge heim.
Im fernen Asteroidengürtel gab es Metalle und Mineralien im Überfluss. Rohstoffe, die den Förderungsausfall auf der Erde ausglichen. Die im Erdorbit und auf dem Mond erbauten Fabriken waren von diesen Rohstoffen abhängig. Die Rettung der geschundenen Erde lag in den Ressourcen und der Energie des Weltraums.
Fuchs verschwendete jedoch kaum einen Gedanken an all das. Er konzentrierte sich vielmehr auf den Frachter, der durch den Gürtel pflügte und gemächlich Kurs aufs innere Sonnensystem nahm, in Richtung der Erde.
»Wenn eine Besatzung an Bord ist, wieso fliegen sie dann auf einer Hohmann-Bahn? Wieso zünden sie nicht das Fusionstriebwerk und beschleunigen in Richtung Erde?«
»Vielleicht sind die Triebwerke ausgefallen«, sagte Amarjagal, ohne von der Steuerkonsole aufzuschauen.
»Sie senden aber keinen Notruf.«
Darauf sagte die Pilotin nichts.
»Wir könnten das Schiff anfunken«, schlug Nodon vor.
»Und es auf uns aufmerksam machen?«, knurrte Fuchs.
»Wenn wir sie sehen, sehen sie uns auch.«
»Dann funken wir sie eben an.«
»Sie senden nichts außer den normalen Telemetriedaten und ID-Signalen«, sagte Amarjagal.
»Wie lauten Name und Kennung des Schiffs?«
Die Pilotin machte eine paar Tastatureingaben auf der Konsole, und die Daten überlagerten die Abbildung des Schiffs: John C. Frémont, Eigner und Betreiber Humphries Space Systems.
Fuchs holte tief Luft. »Wir müssen von hier verschwinden«, sagte er und packte mit seiner großen Hand die Schulter der Pilotin. »Das Schiff ist eine Falle.«
Amarjagal warf einen Blick auf den Bordingenieur, der auf dem Sitz rechts neben ihr saß, und nahm wie geheißen eine Kursänderung vor. Der Schub der Fusionstriebwerke des Schiffs erhöhte sich, und die Nautilus tauchte tiefer in den Gürtel ein.
An Bord der John C. Frémont beobachtete Dorik Harbin den Radarschirm auf der Steuerkonsole; die eisblauen Augen waren auf das Bild von Fuchs' Schiff gerichtet, das in der riesigen Leere des Asteroidengürtels verschwand.
Sein Gesicht war das eines klassischen Kriegers: hohe Wangenknochen, schmale Auger, ein schwarzer Vollbart und dichtes schwarzes Haar, das ihm ins Gesicht fiel. Sein grauer Overall trug das HSS-Logo über der linken Brusttasche und Rangabzeichen an den Ärmeln; er trug den Overall wie eine Militäruniform — nicht nur sauber, sondern rein und mit messerscharfen Bügelfalten. Aber es lag ein gehetzter, gequälter Ausdruck in diesen gletscherkalten Augen. Er schlief nur, wenn er sich partout nicht mehr wach zu halten vermochte, und selbst dann brauchte er noch Beruhigungsmittel, um die Albträume zu vertreiben, die ihn verfolgten.
Doch nun lächelte er — fast. Er hatte früher schon ein paar Mal die Klingen mit Fuchs gekreuzt, und der gerissene Outlaw war ihm immer wieder entkommen. Nur einmal war er seiner habhaft geworden, doch dazu hatte er eine kleine Söldner-Armee gebraucht. Und selbst dann hatte Humphries Fuchs am Leben gelassen. Harbin hatte nämlich erfahren, dass Humphries hinter Fuchs' Frau her war.
Nun hatte Humphries Harbin jedoch den Befehl erteilt, Fuchs zu suchen und zu töten. Aber unauffällig. Draußen in der Kälte und Finsternis des Gürtels, von wo die Nachricht vom Tode des Mannes erst nach vielen Monaten, vielleicht sogar erst nach Jahren an die Öffentlichkeit dringen würde. Also jagte Harbin seiner Beute allein hinterher. So war es ihm auch am liebsten. Andere Menschen machten nur Ärger und weckten Erinnerungen und Sehnsüchte, an die er lieber nicht rührte.
Harbin schüttelte den Kopf und fragte sich, was Humphries eigentlich umtrieb.
Es ist wohl besser, wenn du es nicht weißt, sagte er sich. Du hast schließlich selbst genügend Leichen im Keller, um dir für den Rest des Lebens Albträume zu bescheren. Da musst du nicht auch noch bei anderen Leuten herumschnüffeln.
Selene: Wintersonnenwend-Feier
Es war das gesellschaftliche Ereignis des Jahres. Jeder, der in Selene Rang und Namen hatte, wurde eingeladen, und jeder, der eingeladen war, warf sich in Schale und ging auf die Party. Douglas Stavenger, der Nachfahr der Gründerfamilie der Mondnation, brachte seine Frau mit. Der Botschafter des Globalen Wirtschaftsrats, der De-facto-Weltregierung, brachte zwei seiner vier Frauen mit. Pancho Lane, die Vorstandsvorsitzende des Konkurrenzunternehmens Astro Corporation, erschien ohne Begleitung. Nobuhiko Yamagata, Vorstandsvorsitzender des riesigen japanischen Konzerns, unternahm eigens aus diesem Anlass eine Reise nach Selene. Big George Ambrose, der wie ein Zwillingsbruder von Rübezahl aussah und Chef der Felsenratten-Siedlung in Ceres war, kam mit einem Fusionsschiff den weiten Weg vom Gürtel geflogen, um an Martin Humphries' Weihnachtsfeier teilzunehmen.
Auf den Einladungen stand jedoch Wintersonnenwend-Feier, um die religiösen Gefühle der Moslems, Buddhisten, Hindus und Atheisten auf der Gästeliste nicht zu verletzen. Ein paar der christlichen Konservativen echauffierten sich zwar über mangelnde Pietät, doch Martin Humphries hatte sich noch nie als gläubigen Christen bezeichnet. Big George hatte einen Bierhumpen in jeder Pratze und gab zu bedenken, dass in seinem heimatlichen Australien diese Zeit des Jahres den Einbruch der Winterdunkelheit markierte und nicht die immer längeren Tage, die Vorboten des Frühlings waren.
Einer der Gründe für das zahlreiche Erscheinen war, dass Humphries die Party in seinem palastartigen Anwesen abhielt, das in den Tiefen des Mondes auf der untersten Ebene von Selene errichtet worden war. Er lud sonst kaum jemanden in sein Domizil ein, und deshalb war es auch eher Neugierde als Festtagsstimmung, die einen Großteil der Hundertschaften von Gästen hergelockt hatte.
Offiziell war das ausgedehnte Anwesen mit dem flachen Dach das Eigentum des Humphries Trust-Forschungszentrums — ein rechtlicher Kniff, der der ›Genialität‹ von Martin Humphries zuzuschreiben war.
Die atmosphärelose Oberfläche des Mondes unterliegt zwischen Sonnenlicht und Schatten Temperaturschwankungen von vierhundert Grad. Sie wird in harter Strahlung von der Sonne und dem tiefen Weltraum gebadet und mit einem steten Hagel mikroskopischer Meteoriten bombardiert. Menschliche Siedlungen werden daher unter der Oberfläche angelegt, und je tiefer unter der Oberfläche, desto prestigeträchtiger und teurer das Habitat.
Humphries hatte sein Heim in der tiefsten Grotte unter der ursprünglichen Mondbasis erbaut, sieben Ebenen unter der Oberfläche. Er hatte einen prächtigen Garten angelegt, der die Höhle mit dem schweren Duft von Rosen und Lilien erfüllte; die Anlage wurde mit Wasser gespeist, das aus Sauerstoff und Wasserstoff gewonnen wurde, den man aus dem Gestein der Mondoberfläche extrahierte. Als Beleuchtung dienten lange Bänder aus Breitspektrallampen, die an der unbehauenen Felsdecke befestigt waren und Sonnenschein simulierten. Der Garten hatte eine Fläche von etwas mehr als einem Quadratkilometer, also ungefähr hundert Hektar. Es kostete ein Vermögen, dieses Paradies mit den prachtvollen Azaleen und immer blühenden Stiefmütterchen zu unterhalten, mit den Erlen und weißen Birkenstämmen und den schönen Frangipani-Büschen. Blühende weiße und rosa Pfingstrosen wuchsen baumhoch. Humphries hatte eigens einen Forschungstrust eingerichtet, um den Garten zu finanzieren, und der Regierung von Selene die dreiste Begründung untergejubelt, dass es sich dabei um eine Langzeitstudie handle, eine von Menschen erschaffene Ökologie auf dem Mond aufrechtzuerhalten.