Lars Fuchs war tatsächlich nach Ceres unterwegs. Er flog lautlos und hatte alle Bojen und Telemetrie abgeschaltet. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, die Mundwinkel mürrisch heruntergezogen und angestrengt überlegend stapfte er auf der Brücke der Halsey umher.
Das Schiff absolvierte den Jungfernflug im tiefen Raum recht ordentlich. Die Systeme waren so hoch automatisiert, dass sie es zu viert fliegen konnten. Nodons Schulter verheilte, und Sanja hatte Fuchs versichert, dass noch mehr Besatzungsmitglieder in Chrysallis auf sie warteten.
Fuchs war zwar offiziell vom Felsenratten-Habitat verbannt und hatte es auch seit fast zehn Jahren gemieden. Aber sie werden mir doch wohl erlauben, in einen Parkorbit zu gehen, sagte er sich. Nur für einen Tag oder so. Nur so lang, um mehr Mannschaften und Vorräte an Bord zu nehmen.
Und was dann, fragte er sich. Ich habe die Nautilus, die im Gürtel auf mich wartet, und dieses neue Schiff. Werde ich überhaupt genug Leute finden, um beide Schiffe zu bemannen? Humphries wird alle Reserven gegen mich mobilisieren. Fuchs nickte. Soll er nur. Soll er mich nur durch den Gürtel jagen. Ich werde ihn ausbluten lassen. Es ist mir zwar nicht gelungen, ihn zu töten, aber ich werde ihn dort treffen, wo es ihm am meisten wehtut: in den Büchern. Jedes Schiff, das er auf mich ansetzt, ist ein Aufwand, der den Ertrag schmälert. Bei jedem HSS-Schiff, das ich zerstöre, wird ein Fässchen roter Tinte aufgemacht. Ich werde ihn ausbluten.
Bis er mich tötet, wurde Fuchs sich bewusst. Dieser Krieg zwischen uns kann auf nur eine Weise enden. Ich bin ein toter Mann. Das hat er mir schon vor Jahren gesagt.
Er erhaschte einen Blick auf sein Spiegelbild in einem der dunklen Monitore auf der Brücke. Ein verhärmtes, zorniges Gesicht mit schmalen, zu einem zynischen Grinsen verzerrten Lippen und tiefliegenden Augen, die wie glühende Kohlen brannten.
Ganz recht, sagte er zu seinem Spiegelbild. Er wird mich töten. Aber es wird ihn teuer zu stehen kommen. Ich bin weder leicht noch billig zu haben.
Big George Ambrose saß mit nervösen Zuckungen am Konferenztisch. Der Stuhl war etwas zu klein für seinen massigen Körper, und die Armlehnen waren gerade so hoch, um ihn in eine zusammengekauerte Körperhaltung zu zwingen. Auf die Dauer war das schmerzhaft.
Und diese Sitzung dauerte nun schon seit etlichen Stunden. Das Regierungsgremium von Chrysallis hatte eine seiner seltenen Unstimmigkeiten. Für gewöhnlich nickte das Gremium Georges Entscheidungen nämlich ab. Keins der Ratsmitglieder wollte wirklich Verantwortung übernehmen. Sie wurden nach dem Zufallsprinzip vom Personal-Computer des Habitats ausgewählt und mussten dann ein Jahr im Regierungsgremium dienen. Jeder von den acht Männern und Frauen wäre lieber an seinem alten Arbeitsplatz oder zu Hause gewesen, hätte sich lieber ein Video angeschaut oder in der Bar einen zur Brust genommen. Alles, nur nicht sich in diesem Konferenzraum zanken.
George fand, dass die Bar eine gute Idee war. Vielleicht sollten wir unsere dämlichen Sitzungen dort abhalten, sagte er sich. Alle abfüllen und dann abstimmen lassen.
Aber er wusste, dass es um eine ernste Sache ging. Man musste sich dem Problem stellen und nüchtern abschätzen.
Pancho hatte George gewarnt, dass Lars Fuchs in einem Raumschiff Kurs auf den Gürtel nahm. Man konnte es an den Fingern einer Hand abzählen, dass er sich irgendwo Vorräte beschaffen musste, und dieses Irgendwo war Ceres.
»Vielleicht kommt er gar nicht hierher«, sagte eins der Ratsmitglieder, eine nervös wirkende Frau in einem modischen Pullover, der mehr zeigte als verhüllte. »Vielleicht kapert er ein paar Schiffe und stiehlt die Vorräte, die er braucht. Er ist schließlich ein Pirat.«
»Deshalb haben wir ihn ja verbannt«, sagte der schafsäugige Lagerhaus-Arbeiter, der neben ihr saß.
»Das ist nicht ganz richtig«, korrigierte George.
»Aber verbannt haben wir ihn doch«, sagte der Lagerist patzig. »Dann dürfen wir ihm auch nicht erlauben, hier anzudocken.«
»Das war vor zehn Jahren«, sagte eines der älteren Vorstandsmitglieder, ein ehemaliger Bergmann, der eine neue Karriere als Waffentechniker eingeschlagen hatte.
»Aber er wurde auf Lebenszeit verbannt, stimmt's?«
»Stimmt«, gab George zu.
»Na bitte.«
»Hört mal«, sagte die Frau, die George direkt gegenübersaß — eine pummelige Rothaarige mit künstlich violetten Augen. »Die Hälfte der HSS-Schiffen im Gürtel wird auf der Suche nach Fuchs sein. Wenn er hier auftaucht, werden sie ihn sich schnappen.«
»Das ist neutrales Territorium«, sagte George. »Jeder weiß das. Wir haben es mit HSS und Astro vereinbart. Wir fertigen jedes Schiff ab, das zu uns kommt, und dafür finden im Umkreis von tausend Klicks ums Habitat keine Kampfhandlungen statt.«
»Das bedeutet aber nicht, dass wir Fuchs auch abfertigen müssten. Er ist schließlich ein Exilant.«
»Es ist noch jemand involviert«, fügte George hinzu. »Wir bekommen Besuch von einem Medien-Star. Sie wird morgen hier eintreffen. Edith Elgin.«
»Ich sehe immer ihre Shows von Selene!«
»Ist sie nicht mit Douglas Stavenger verheiratet?«
»Was will die hier?«
»Eine Dokumentation über den Krieg produzieren«, erklärte George.
»Wollen wir überhaupt eine Dokumentation über den Krieg? Ich meine, das ist doch keine gute Publicity für uns?«
»Sie wird Fuchs interviewen wollen, da gehe ich jede Wette ein.«
»Das wäre ein Garant für größte Publikumswirksamkeit: ein Interview mit dem legendären Piraten.«
»Wir werden den Eindruck einer Räuberhöhle machen.«
»Können wir sie nicht aufhalten?«
Alle acht schauten auf George.
George war von dieser Wendung überrascht. »Es wäre ein höllischer Aufwand, sie zu verscheuchen. Sie hat ein Recht auf Berichterstattung.«
»Das heißt aber noch lange nicht, dass wir ihr auch helfen müssen. Sie soll ihr Interview mit Fuchs gefälligst woanders machen.«
Humphries' Leute sind schlau genug, um sie zu beobachten und darauf zu warten, dass Fuchs auftaucht. Wo auch immer sie Fuchs interviewt, es wird verdammt gefährlich für sie beide sein.
Asteroid Vesta
Eine einzelne Nanomaschine ist wie eine einzelne Ameise: seelenlos, aber ständig aktiv. Das emsige, endlose Schaffen dient keinem ersichtlichen Zweck; selbst die unermüdlichsten Anstrengungen einer Maschine, nicht größer als ein Virus, sind praktisch unsichtbar auf der Skala menschlichen Tuns.
Während eine einzelne Ameise wenig auszurichten vermag und wegen ihres winzigen Gehirns nur zu Instinkthandlungen fähig ist, besitzt eine Ameisen-Kolonie von vielen Millionen blind umherwuselnder Wesen die Fähigkeit, einen Wald zu entlauben und eine Stadt zu errichten — mit einer Zweckmäßigkeit zu handeln, die an menschliche Intelligenz gemahnt.
So verhält sich das auch mit Nanomaschinen. Eine einzelne Einheit vermag wenig zu leisten. Doch brachte man Millionen dieser virengroßen Entitäten in einem begrenzten Bereich zum Einsatz, wurden sie in einer Dimension schöpferisch — oder zerstörerisch — tätig, die menschlichen Kapazitäten durchaus entsprach.
Der Asteroid Vesta war ein Sphäroid reich an Nickel-Eisen und durchmaß ungefähr 500 Kilometer. Der Stützpunkt von Humphries Space Systems befand sich größtenteils in mehr als zwanzig Metern Tiefe unter der narbigen, kahlen Oberfläche des Asteroiden.
Die Nanomaschinen, die über einem kleinen Abschnitt der Asteroidenoberfläche verstreut wurden, operierten unter ganz anderen dimensionalen und Umweltbedingungen. Ihre Welt war ein Universum endlos schwingender, zuckender Moleküle, wo elektromagnetische Kräfte Atome zu dichten Zusammenballungen formierten und die Brownsche Bewegung Atome, Moleküle und Nanomaschinen gleichermaßen herumstieß. In diesem Maßstab waren die Nanomaschinen riesige mechanische Vorrichtungen — großen Planierraupen oder Kränen vergleichbar —, die sich einen Weg durch die rastlos umherflitzenden Moleküle bahnten.