Harbin sah an ihrem Gesichtsausdruck, dass das aber noch nicht alles war. »Was denn noch?«
»Ich habe die Anweisung erhalten, Sie Ihres Kommandos zu entheben. Mr. Humphries hat persönlich angerufen und wollte wissen, wer für die Vernichtung des Habitats Chrysallis verantwortlich war. Als er erfuhr, dass Sie es waren, bekam er einen Wutanfall. Anscheinend ist er so etwas schon von Ihnen gewohnt.«
Harbin hatte das Gefühl, als ob er diese Szene aus großer Entfernung beobachtete. Als ob er nicht mehr in seinem Körper wäre, sondern frei schwebte — allein, unberührt, unantastbar.
»Reden Sie weiter«, hörte er sich sagen.
»Er will, dass Sie in Selene wegen Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt werden«, sagte der Erste Offizier steif und mit spröder Stimme.
»Kriegsverbrechen.«
»Das Chrysallis-Massaker. Er sagte auch, dass Sie vor ein paar Jahren eine seiner Angestellten ermordet hätten.«
»Ich verstehe.«
»Ich habe die Anordnung erhalten, Sie Ihres Kommandos zu entheben und in Ihrer Kabine unter Arrest zu stellen. Sir.«
Harbin lächelte sie fast an. »Dann sollten Sie die Anordnung auch befolgen.«
Sie drehte sich um und ergriff den Türknauf. »Es kommt auf allen Nachrichtennetzen«, sagte sie noch, bevor sie auf den Gang hinaus trat. »Sie senden es seit zwei Tagen.«
Sie verließ ihn und schob die Tür zu. Es gab kein Schloss an der Tür. Egal, sagte Harbin sich. Auch in verschlossenem Zustand war die Faltschiebetür so labil, dass er sie leicht durchbrechen konnte. Wenn er es denn wollte.
Harbin stand für einen Moment in seiner muffigen, engen Kabine, dann zuckte er die Achseln. Der bleiche Finger schreibt, sagte er sich. Und all deine Tränen löschen kein Wort davon aus.
Wieso fühle ich nichts, fragte er sich. Ich bin wie eine Statue aus Eis. Das Chrysallis-Massaker, so hat sie es genannt. Massaker?
Achselzuckend wies er den Wandbildschirm an, die Nachrichten zu zeigen.
Das entsetzte Gesicht einer Frau mit leerem Blick erschien auf dem Schirm; ihr Name — Edith Elgin — wurde unterm Bild eingeblendet. Sie trug kein Make-up, ihre Frisur war derangiert und ihre Stimme kaum mehr als ein zittriges Flüstern.
»… sind nun schon seit mehreren Stunden auf der Suche nach Überlebenden«, sagte sie. »Bisher ist noch niemand gefunden worden.«
Die Szene änderte sich plötzlich, und das Wrack des Habitats Chrysallis wurde abgebildet: Abgerissene, zerknitterte Metall-Zylinder glitzerten vor der Schwärze des Raums. Gezackte Trümmerstücke und aufgedunsene Leichen drifteten überall umher.
Und Edith Elgins Stimme — vor Leid und Entsetzen erstickt — sagte fast schluchzend: »Es hatten fast elfhundert Menschen im Habitat gelebt, als es angegriffen wurde. Sie hatten keine Waffen, keine Verteidigung. Sie wurden von ihrem unbekannten Angreifer methodisch abgeschlachtet.«
Harbin sank auf sein Bett und starrte auf den Bildschirm. Der eisige Panzer, der ihn umhüllt hatte, begann zu tauen. Zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte er Emotionen. Er verspürte Schmerz.
»Die Yamagata Corporation ist für die Chrysallis-Tragödie nicht verantwortlich«, sagte Nobuhiko ernst. »Unsere Angestellten hatten einen Dienstvertrag mit Humphries Space Systems.«
»Ich habe nie befohlen, das Habitat anzugreifen«, erwiderte Humphries hitzig. »Ich wollte nur, dass sie Fuchs ausfindig machen.«
»Lars ist nun irgendwo im Gürtel«, sagte Pancho. »Sie werden ihn nie finden.«
»Und ob ich das werde. Er hat versucht, mich zu töten!«
»Damit habe ich nichts zu tun«, sagte Pancho.
Stavenger schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und brachte sie so zum Schweigen. »Es ist mir egal, wer wem was angetan tat. Das ist Vergangenheit und Schnee von gestern. Wir sind hier, um zu verhindern, dass solche Dinge wieder geschehen. Ich will, dass diese Kämpfe aufhören.«
»Sicher«, sagte Humphries leichthin. »Ich bin bereit, damit aufzuhören. Aber ich will den Kopf von Fuchs auf einem silbernen Tablett.«
»Was Sie wollen«, sagte Pancho, »ist die totale Kontrolle des Gürtels und all seiner Ressourcen.«
»Wollen Sie das nicht auch?«, konterte Humphries. »Und Sie doch auch?«, fügte er an Yamagata gewandt hinzu.
»Wo Sie nun dafür gesorgt haben, dass Nanomaschinen die Ausbeutung der Asteroiden betreiben, wäre es in ökonomischer Hinsicht durchaus sinnvoll, wenn ein Unternehmen ein Monopol im Gürtel hat.«
»Aber welches Unternehmen?«, fragte Humphries.
Die drei starrten sich an.
»Einen Moment«, sagte Stavenger. »Sie alle haben einen wichtigen Aspekt vergessen.«
Sie wandten sich ihm zu.
»Bei der Ausbeutung der Asteroiden geht es um mehr als bloßes Gewinnstreben«, sagte er. »Um mehr als Machtzuwachs.«
Humphries grinste blöde. »Ich wüsste nicht, was das sein sollte.«
Doch Panchos Gesicht hellte sich auf. »Das, was Dan Randolph von vornherein wollte! Damals, als wir in der alten Starpower zum Gürtel geflogen sind.«
»Und was war das?«, fragte Nobuhiko.
»Den Menschen auf der Erde zu helfen«, sagte Pancho. »Ihnen zu helfen, sich von der Klimakatastrophe zu erholen. Sie mit Rohstoffen für den Wiederaufbau zu versorgen. Ihnen den Brennstoff für Fusionskraftwerke zu liefern. Das ist es, was Dan tun wollte!«
»Und was wir ganz aus den Augen verloren haben«, sagte Stavenger.
»Gut, dann sind wir uns in dieser Hinsicht einig«, sagte Humphries. »Aber das bedeutet nicht …«
Pancho fiel ihm ins Wort. »Wir sollten die Erze von den Asteroiden zum niedrigstmöglichen Preis verkaufen. Und den Fusionsbrennstoff auch.«
»Und mehr Solarkraftwerks-Satelliten bauen«, fügte Stavenger hinzu.
»Beim Wiederaufbau von Japan helfen«, murmelte Yamagata.
»Beim Wiederaufbau der Welt helfen«, sagte Pancho.
Stavenger lächelte zufrieden. »Und dabei zu helfen, neue menschliche Habitats auf dem Mond und anderswo im Weltraum zu errichten.«
»Wir können das schaffen!«, pflichtete Pancho ihm bei.
»Aber nicht, wenn ihr drei euch gegenseitig den Hals durchschneidet«, sagte Stavenger.
»Nur ein Unternehmen sollte die Ressourcen des Gürtels verwalten«, sagte Yamagata bestimmt. »Konkurrenz hat keinen Sinn mehr, wenn Nanoverarbeitung die Preise für Asteroidenerz reduziert.«
»Keine Erze«, erinnerte Humphries ihn. »Die Nanomaschinen erzeugen reine Metalle.«
»Und Minerale«, ergänzte Pancho.
Humphries nickte ihr übertrieben zu.
»Aber welche Firma soll das Monopol bekommen?«, fragte Yamagata.
»Jedenfalls keine Ihrer Firmen«, sagte Stavenger.
»Was?«, blaffte Humphries. »Es muss einer von uns sein. Es hat sonst niemand die entsprechenden Kapazitäten.«
»Selene hat sie«, sagte Pancho und schaute Stavenger in die Augen. Sie erriet seine Absicht.
Er erwiderte ihren Blick. »Das ist richtig«, sagte er. »Selene wird den Laden schmeißen.«
Humphries explodierte. »Wenn Sie glauben, dass Sie mir nehmen könnten, was mir rechtmäßig zusteht …«
»Ihnen rechtmäßig zusteht?«, sagte Stavenger unwirsch. »Ein Standgericht und ein Exekutionskommando sind das, was Ihnen rechtmäßig zusteht. Es gibt nur eine Körperschaft, die fähig ist, die Ressourcen des Gürtels zu erschließen, und diese Körperschaft ist Selene. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, so wird es gemacht.«
»Nur weil Sie es sagen?«, fragte Humphries aggressiv.
»Stimmt. Weil ich es sage. Ich habe untätig zugesehen, wie Sie den Gürtel in ein Schlachtfeld verwandelt haben. Damit hat es nun ein Ende! Ich werde persönlich dafür sorgen, dass Selene die Kontrolle über Ihre sämtlichen Operationen im Gürtel übernimmt. Basta.«