Oulu Nikeria kam auf Paro Bacos zu. „Ich möchte Sagitta eine Freude machen und mit ihr die Steuerwache übernehmen“, sagte er. „Sie braucht zwar meine Unterstützung nicht, denn sie kann alle Kontrollaufgaben selbst bewältigen, aber…“
Paro Bacos winkte ab und nickte Oulu zu. Er wollte nicht, daß der Afrikaner lange Erklärungen abgab. „Sagitta wird bestimmt sehr froh sein, wenn du ihr die Einsamkeit überwinden hilfst. Die Stunden der nächtlichen Steuerwache können für einen einzelnen Menschen sehr trostlos sein.“
Pünktlich um vier Uhr früh trat Sagitta in den Steuerraum ein. Sie war überrascht, als sie Oulu sah. Ihre Augen leuchteten freudig auf. Sagitta hatte nicht gewußt, daß er hier auf sie wartete, um mit ihr die Steuerwache zu teilen. Ihr kam es auch gar nicht in den Sinn, daß Oulu vielleicht aus einem anderen Grund im Steuerraum sein könnte. Ihr Gefühl sagte ihr sofort untrüglich: Oulu ist für mich hierhergekommen. Sie ging auf die beiden Männer zu und blieb vor ihnen unschlüssig stehen. In ihr war plötzlich neben der großen Freude doch so ein Gefühl der Verlegenheit aufgekommen.
Paro Bacos überbrückte diese Situation und begann vorschriftsmäßig die Steuerwache an Sagitta zu übergeben. Dabei teilte er ihr auch in knappen Worten die Vorfälle der letzten vier Stunden mit. Das waren die kleine Störung am Formax und die rätselhafte Sache mit dem Transuran. Den Funkspruch der Basis an die Leitrakete hielt Bacos nicht für erwähnenswert.
Der Abgelöste wollte sich gerade verabschieden und gehen, als die Funkautomatik summte. Das bedeutete, daß das Raumschiff angerufen wurde.
Sagitta war mit ein paar schnellen Schritten bei den Funkapparaturen. „Hier AJ-408 auf Position Ekliptik 520, Strich 1420. Grün leuchtet. 408 ist empfangsbereit“, meldete sich die Ärztin.
Sagitta, Oulu und Paro Bacos warteten eine Weile. Nach etwa zwei Minuten erreichten die Funkwellen des Anrufenden wieder das Raumschiff. „Hier Leitrakete AJ- 401 auf Position Ekliptik 500, Strich 1419. Kommodore an Kommandanten. — Raumschiff stoppen und auf Position Ekliptik 520, Strich 1413 zurückführen. Dort…“
Die Worte verzerrten sich und gingen schließlich in einem Rauschen und Knistern unter. Als dann der Funkspruch wieder klar kam, hörten die drei nur noch einige Raumkoordinaten und die Angaben über die Bahnelemente eines kosmischen Flugkörpers.
Auch der bei eingehenden Funksendungen selbständig mitlaufende Funkfernschreiber, der elektronische Teleprinter, hatte im Text Verstümmelungen und Störungen.
„Hallo, Leitrakete, Funkspruch teilweise verstümmelt! Bitte wiederholen!“ rief Sagitta mehrmals in das Mikrophon.
Oulu rechnete im Kopf aus, daß die Bitte um Wiederholung die 20 Millionen Kilometer bis zur Leitrakete in 66 Sekunden durchflogen haben wird. Man würde also, da die Wiederholung des Funkspruchs gleichfalls 66 Sekunden braucht, um den Weltraum von der Leitrakete bis zu AJ-408 zu durchdringen, frühestens in 2 Minuten und 12 Sekunden wieder Empfang haben.
Man müßte Kerulen eigentlich jetzt schon verständigen, dachte Oulu. Er sah Sagitta an.
Die Ärztin hatte den gleichen Gedanken, aber sie zögerte noch. Sollte man den Kommandanten nicht erst dann informieren, wenn der Funkspruch vollständig ist? überlegte sie. Als sie aber zu Oulu blickte und in seinem Gesicht las, entschloß sie sich.
Sagitta beugte sich über die individuelle Kabinenrufanlage und verband sich mit Kerulen. Als sich dieser meldete, teilte sie ihm mit, daß soeben ein verstümmelter Funkspruch eingegangen sei, der in den wenigen klaren Textstellen den Befehl zur sofortigen Umkehr enthalte.
„Ich habe Wiederholung des Funkspruchs angefordert“, sagte Sagitta abschließend.
„Komme sofort“, antwortete Kerulen kurz.
Oulu hatte sich inzwischen an die Tastatur des Elektronenhirns gesetzt. Da feststand, daß AJ-408 stoppen und auf seiner Kreisbahn zurückfliegen mußte, begann er sofort mit der Berechnung der günstigsten Brems- und Beschleunigungswerte für das Manöver. Am kompliziertesten war dabei die sogenannte Nullberechnung. Unter kosmischen Bedingungen war es nämlich nicht möglich, das Raumschiff in einem großen Bogen auf die entgegengesetzte Richtung umzusteuern. Es mußte auf null Kilometer pro Sekunde gebremst, mit dem Bug in die neue Richtung gedreht und erneut beschleunigt werden. Dabei war zu berücksichtigen, daß das Raumschiff beim Bremsen zwangsläufig mehr und mehr von seiner Kreisbahn abwich und bei null Kilometersekunden in Richtung auf die Sonne zu stürzen begann. Dieser Sturz mußte abgefangen werden. Mit dem Steigen der Geschwindigkeit in der neuen Flugrichtung konnten dann allmählich alle Abweichungen von der Kreisbahn, die durch das Bremsen verursacht wurden, wieder ausgeglichen werden.
2 Minuten und 20 Sekunden waren seit der Nachforderung vergangen, als endlich wieder der Teleprinter zu ticken begann und der Funksprecher einsetzte. Diesmal war der Funkspruch klar. Sein Text lautete vollständig: „Kommodore an Kommandanten. — Raumschiff stoppen und auf Position 520, Strich 1413 zurückführen. Dort Asteroid Adonis erwarten. Funkwarnfeuer gestört, bitte überprüfen. Wenn nötig, Landegruppe aussetzen und Funkwarnfeuer neu aufbauen. Sendeapparaturen auf 400 Grad plus isolieren, da Adonis sonnennahen Durchgang hat. Flottille wird AJ-408 in zehn Tagen auf der Bahn des Asteroiden zwischen dem 400. und 440. Sonnenkreis erwarten.“
Hier endete der Funkspruch mit den Koordinaten des gegenwärtigen Standpunktes des Asteroiden Adonis und mit seinen Bahnelementen. Kommandant Kerulen war inzwischen im Zentralposten eingetroffen. Er zog das vom Teleprinter beschriebene Blatt aus dem Funkfernschreiber und las es sorgfältig durch.
Als er dann aufsah, sagte er nach kurzem Überlegen zu Sagitta und Paro Bacos: „Wir können uns für das Manöver zur Rückführung des Raumschiffes auf die neue Position etwas mehr Zeit lassen als sonst. Adonis fliegt erst in drei Tagen in den Bereich unseres gestrigen Flugabschnittes ein. Die Besatzung braucht also nicht vorzeitig geweckt zu werden. Das Umkehrmanöver muß frühestens in vier Stunden, nach dem Frühstück, beginnen. Bis dahin können wir aber schon die Geschwindigkeit unserer Rakete etwas verringern. Sie, Sagitta, überwachen bitte die Abbremsung der Geschwindigkeit am Pilotron. Die notwendige Einstellung dafür am Astropiloten werde ich selbst vornehmen.“
Paro Bacos, dessen Anwesenheit nicht mehr notwendig war, verließ die Steuerzentrale, um in seine Kabine zu gehen und noch ein paar Stunden zu schlafen. Im Hinausgehen sah er, wie Oulu Nikeria ein stummes Zwiegespräch mit dem Elektronenhirn hielt. Aha, die Nullberechnung, dachte Bacos. Der Mathematiker befragte den Rechenzyklon, indem er einige Tasten drückte. Das elektronische Hirn antwortete mit Diagrammen, Kurven und schlängelnden Linien auf seinem gläsernen, grün phosphoreszierenden Rechenschirm.
AJ-408 hatte sich bis zu dem Gebiet des interplanetaren Raumes zurückgetastet, in dem der Asteroid in wenigen Stunden erscheinen mußte. Da das Raumschiff nun gegen die allgemeine Flugrichtung der Meteoriten flog, schickten — auf Anordnung des Kommandanten — Norbert Franken und Rai Raipur, einander ablösend, ununterbrochen einen sehr intensiven breiten Radarfächer voraus. Diese zusätzliche Vorsichtsmaßnahme erwies sich dann auch als sehr nützlich.
Erst jetzt, beim Flug gegen den Strom, erhielt man einen Eindruck davon, wie stark dieser Teil des kosmischen Raumes zwischen den Planeten Mars und Jupiter von vagabundierenden Trümmerstücken verseucht war. Der Pilotron hatte in den vergangenen siebzig Stunden nicht weniger als viermal kosmischen Körpern ausweichen müssen. Das war für interplanetare Verhältnisse sehr viel. Es gab Raumschiffe, die jahrelang von Planet zu Planet flogen, ohne einem Meteoriten zu begegnen.
Jetzt saß Norbert Franken am Funk- und Radarpult im zentralen Steuerraum und beobachtete den nahenden Kleinstplaneten. Das Radar hatte den Asteroiden vor zwölf Stunden gemeldet, als er noch rund 561000 Kilometer entfernt war. Inzwischen hatte sich der kleine Himmelskörper auf 87000 Kilometer genähert. Er zog gemächlich mit etwa 13 Kilometer pro Sekunde seine Bahn. In zwei Stunden mußte man ihn mit dem bloßen Auge erkennen können. Das Funkwarnfeuer aber schwieg. Sein mahnender Ruf hätte schon längst hörbar sein müssen.