Plötzlich stutzte der Navigator. Er runzelte die Stirn und starrte überrascht auf den Fernsehschirm, über den linken Rand schob sich ein sehr heller Stern, der nicht in dieses Sternbild gehörte. Dieser helle Unbekannte befand sich bei dem bekannten Stern G 77 in der Nähe des galaktischen Südpols. Das war doch unmöglich.
Im gleichen Augenblick schrillten die automatischen Alarmglocken des Radars ihre Meteoritenwarnung durch alle Räume. Blitzschnell schnallten sich die Männer an.
Kerulen beobachtete aufmerksam seine Gefährten.
Rai Raipur wehrte sich gegen den aufkommenden Schreck. Seine Kiefer preßten sich unwillkürlich aufeinander. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Er riß seinen Blick vom großen Fernsehschirm weg zu seinen Instrumenten. Der Entfernungsmesser des Radars schnellte auf der Skala nach rechts und pendelte bei 60000 Kilometern aus. Ungewollt schob sich vor Rais Augen das Bild seiner Lebensgefährtin Intra. Er sah ihre großen, langbewimperten Augen, ihr streng nach hinten gekämmtes schwarzes Haar, das braune Gesicht und die schlanke, zierliche Gestalt in dem weiten, verhüllenden Gewand seiner indischen Kulturheimat.
Die Zahl 60000 drang wieder in sein Bewußtsein. Rai teilte diese Entfernung, nun wieder gefaßt, halblaut den anderen mit. Die Distanz zu dem Radarreflex, der mit 16 Kilometer in der Sekunde flog, verringerte sich verhältnismäßig langsam. Das Raumschiff würde bei seiner gegenwärtigen Geschwindigkeit frühestens in fünfunddreißig Minuten in der Nähe des Radarobjektes sein. Rai Raipur begann an seinen Instrumenten die einzelnen Werte über Richtung, Geschwindigkeit, Größe und Form des Radarobjektes abzulesen. Zusehends erhellte sich der Ausdruck seines Gesichtes.
Oulu Nikeria, der Mathematiker, schnellte auf seinem Drehsessel am Formax herum. Noch sitzend, leicht vorgebeugt, beide Hände fest auf die Armlehnen gepreßt, wirkte seine große kräftige Gestalt wie zum Sprung bereit. Fragend ruhten seine Augen auf dem Gesicht des Kommandanten, bereit, sofort einen seiner Befehle auszuführen.
Seine angespannte Bereitschaft wich einer nicht geringen Verwunderung. Kerulen schien gar nicht an Befehle zu denken. Der Kommandant saß bequem und ruhig mit ungerührter Miene in seinem Sessel am Pilotron. Oulu lauschte gespannt nach dem leisen Summen des Formax. Aber auch das Elektronenhirn blieb bei seinem gewohnten Ton. Im Moment der Gefahr hätte dieses Rechenwerk, das mit dem Pilotron gekoppelt war, doch infolge schlagartig anschwellender Rechenoperationen stark aufsummen müssen.
Am Triebwerkspult zuckten, als das Alarmzeichen ertönte, zwei Hände hoch. Der Ingenieur für die Atomtriebwerke, der Araber Salamah El Durham, wollte instinktiv die Hebel der Bremsdüsen herumwerfen. Auf halbem Wege ließ er wieder die Arme sinken. Er besann sich darauf, daß der Pilotron zusammen mit dem Elektronenhirn schon längst im Bruchteil einer Sekunde seine Entscheidungen getroffen hatte und rechtzeitig reagieren würde. Der Ingenieur hakte noch nicht einmal den breiten Gurt ein, der ihn davor bewahren sollte, bei Abbremsungen des Fluges aus dem Sessel herausgeschleudert zu werden. Es war ihm alles gleichgültig. Ein Anfall von Lethargie hatte ihn wieder einmal gepackt. Dem Navigator schoß es beim Alarmklingeln sofort durch den Kopf: Radarreflex gleich AJ-417. Unwillkürlich mußte er lächeln. Der neue Unbekannte beim Stern G77 war also gar kein Stern, sondern der in das Fernsehbild eingeblendete Radarreflex eines ziemlich großen oder aber sehr metallhaltigen Körpers im Weltraum. Dieser auftauchende Körper mußte AJ-417 sein, das abzulösende Raumschiff.
Inzwischen hatten sich die beiden Bilder auf dem großen zentralen Bildschirm an der Stirnseite der Steuerzentrale überdeckt.
„Rakete auf den 520. Kreis eingesteuert. Neuer Kurs liegt an!“ meldete der Navigator mit völlig ruhiger Stimme. Dann schaltete er den Projektor ab.
Kerulen dankte für die Meldung. Er war mit seinen Beobachtungen in diesen Augenblicken der vermeintlichen Gefahr zufrieden. Keiner seiner Männer im Steuerraum hatte bei der Probe versagt. Niemand hatte im ersten Schreck nervös, fahrig und unüberlegt gehandelt. Jeder hatte auf seine Weise reagiert: menschlich, beherrscht und willensstark. Er konnte ihnen vertrauen und sich auf sie verlassen. Nur El Durham machte ihm Sorge. Dem aufmerksamen Blick des Kommandanten war es nicht entgangen, daß der Araber unangeschnallt im Sessel saß.
Axel Kerulen beugte sich zum Mikrophon für den Bordfunk. „Alarm beendet! Alarm beendet! Radarobjekt als AJ-417 identifiziert. Radarobjekt ist Asteroidenjäger 417.“
Filitra Goma hatte vor Beginn der Manöver den Raum der Ethik, den großen Gemeinschaftsraum, verlassen. Sie ging in ihre Wohnkabine, um einige Briefe an ihre Eltern und an Bruder und Schwester zu schreiben. Noch hatte sie ihre Furcht vor den Meteoriten nicht ganz überwunden. Der erfahrene und besonnene Paro Bacos hatte ihr die Angst durch seine Erklärungen nicht völlig nehmen können. Die Briefe und die Gedanken an daheim würden ihr guttun und ihr helfen, jede Unsicherheit abzulegen. Diese Briefe sollten mit der heimkehrenden Rakete AJ-417 zur Basis auf den Mars und von dort weiter zur Erde und nach Südamerika gelangen. In zwei Monaten würden Vater und Mutter in ihrem Haus an den Wasserfällen des Iguassu diesen mit eigener Hand geschriebenen Gruß erhalten; in zwei Monaten wollte sie, obwohl unerreichbar fern, bei ihren Lieben weilen; in zwei Monaten sollte daheim das innige Band ihrer unsichtbaren Gegenwart schwingen.
Filitra hätte sich natürlich auch der gefunkten Raumpost bedienen können, aber davon würde sie in den kommenden zehn Monaten noch oft genug Gebrauch machen können. Die sich in einigen Stunden bei der Ablösung der Besatzung der Rakete AJ-417 ergebende Möglichkeit, einen geschriebenen Brief mitzugeben, war vorläufig die letzte Gelegenheit.
Sie scheute sich nicht, diese alte Form des Gedankenaustausches anzuwenden. Sie liebte diese Gepflogenheit vergangener Jahrhunderte. Ein solcher Brief war wie etwas, was lebte und was auch durch seinen Flug in der Leere des Alls seine Wärme und seine Lebendigkeit nicht verlor. Wenn sie auf der Erde einen handgeschriebenen Brief erhielt, so erschien er ihr gegenüber den üblichen, mit Diktaphon geschriebenen Briefen wie ein unersetzliches Kleinod.
Die hohe Wertschätzung handgeschriebener Briefe hatte sich noch unter einem großen Teil der Bevölkerung der Erde erhalten, obwohl es schon seit langem die verschiedensten technischen Mittel, wie Diktaphon, Skriptophon und kleine elektronische Gedankenspeicher, für den persönlichen Gebrauch eines jeden einzelnen gab. Immer wieder tauschten die Menschen handgeschriebene Briefe aus. Sie wurden meist zwischen miteinander sehr Vertrauten gewechselt. Handschriftliche Mitteilungen waren vor allem das heilige Vorrecht Liebender.
Filitra Goma schritt den langen Zentralgang des Raumschiffes entlang. Dieser Gang zog sich vom Hauptbefehlsstand im Vorderteil des Schiffes durch die ersten vier Fünftel des Rumpfes bis zur schweren, dicken Schutzwand vor dem letzten Fünftel der Rakete. Von diesem Gang aus konnte man sowohl die Wohn- und Erholungsräume als auch die Laboratorien und sonstigen Arbeitsräume, die technischen Anlagen, die Werkstätten, die Vorratsräume, kurz — alle Räume und Zellen erreichen, die es im Weltraumschiff gab. Nur der Raum hinter der schweren grauen Schutzwand am Ende des Ganges war unzugänglich. Er enthielt die physikalischen Energieerzeuger, die Atomtriebwerke. Das Betreten des Heckteils der Rakete war nur unter Beachtung besonderer Sicherheitsvorschriften und nach ganz bestimmten Maßnahmen möglich. Für diese Fälle gab es einen engen Einstiegsschacht in der Schutzwand.
Übrigens war der Zentralgang nicht schnurgerade und eintönig, nicht wie eine gleichmäßig von Türen durchbrochene Tunnelflucht. Die Ingenieure hatten auf den Rat der Psychologen hin spiralförmige Windungen, Treppen, kleine Galerien, Überführungen, Knicke und Nischen in den Gang eingebaut. Bei der Ausstattung hatten dann die Architekten diesen Gang durch Lichteffekte, Farben, durchmusterte Wandflächen, Pflanzen, Zeichnungen und Bilder, kleine Skulpturen und Plastiken noch abwechslungsreicher gestaltet.