Ripley lachte erleichtert, und die beiden Männer verließen den Pub. Kurz darauf lief der Ripper noch einmal zurück und holte die Trompete. Der Barkeeper telefonierte gerade mit Kris Cardenas, der einzigen medizinischen Fachkraft auf Ceres. Er hielt einen Kredit-Chip von einem der Prolls in der Hand.
Kapitel 10
Auch nach fünf Jahren im Vorstand der Astro Corporation betrachtete Pancho Lane sich noch immer als Neuling. Du musst noch viel lernen, Mädchen, sagte sie sich fast täglich.
Dennoch hatte sie im Lauf der Zeit ein paar Arbeitsgewohnheiten entwickelt und ein kleines Regelwerk für sich erstellt. Sie verbrachte möglichst wenig Zeit in Astros Büros. Ob in La Guaira auf der Erde oder in Selene, Pancho mischte sich lieber unter die Ingenieure und Astronauten, anstatt sich mit den elitären Schlipsträgern abzugeben. Sie hatte als ehemalige Astronautin selbst die Ochsentour durchlaufen und war nicht gewillt, Berichte zu lesen und Grafiken zu studieren, wenn sie draußen bei den Arbeitern sein und sich die Hände schmutzig machen konnte. Sie zog den Geruch von Maschinenöl und ehrlichem Schweiß den unterschwelligen Spannungen und Machtspielen in den Büros vor.
Eine ihrer selbst auferlegten Regeln bestand darin, eine Entscheidung zu treffen, sobald sie über die notwendigen Informationen verfügte und dann gemäß dieser Entscheidung schnell zu handeln. Eine andere Regel besagte, schlechte Nachrichten selbst zu verkünden, anstatt eine untere Charge damit zu beauftragen.
Dennoch zögerte sie, den Anruf an Lars Fuchs zu tätigen. Sie wusste, dass er sich nicht darüber freuen würde. Also rief sie seine Frau an. Pancho und Amanda hatten vor fünf Jahren zusammengearbeitet; sie hatten die Starpower 1 auf dem Jungfernflug zum Gürtel gesteuert. Sie hatten hilflos zugeschaut, wie Dan Randolph an der Strahlenkrankheit gestorben war —per Fernsteuerung von Martin Humphries ermordet.
Und nun machte der Stecher das Angebot, Lars und Mandy auszukaufen, sie von Ceres zu verjagen und mit Humphries Space Systems als Alleinlieferant für die Felsenratten sich dort draußen zu etablieren. Pancho hatte versucht, Humphries zu bekämpfen und Astro über Fuchs’ kleine Firma im Spiel zu halten. Aber sie war von Humphries nach allen Regeln der Kunst ausmanövriert worden, und sie wusste es.
Ärgerlicher auf sich selbst als auf sonst jemanden marschierte sie in ihr Büro in La Guaira und tätigte den Anruf an Amanda. Sie hatte keinen Blick für die liebliche tropische Kulisse vorm Bürofenster; die grünen, wolkenbekränzten Berge und das Meer mit seinem leichten Wellengang übten keinen Reiz auf sie aus. Sie legte die gestiefelten Füße auf den Schreibtisch. Sie wünschte sich, sie hätte irgendeine Möglichkeit gehabt, Mandy und Lars zu helfen und wies das Telefon an, eine Nachricht an Amanda Cunningham-Fuchs auf Ceres zu senden.
»Mandy«, sagte sie grußlos, »ich hab leider schlechte Nachrichten für dich und Lars. Astro wird Humphries’ Übernahmeangebot nicht überbieten. Der Vorstand wird nicht dafür stimmen, euch auszukaufen. Humphries hat eine kleine Hausmacht im Vorstand, und sie haben den Antrag im Klo runtergespült. Tut mir Leid, Kind. Schau bei mir vorbei, wenn du nach Selene zurückkehrst oder wenn du auf der Durchreise bist. Vielleicht können wir dann ein wenig Zeit zusammen verbringen, ohne uns übers Geschäft Gedanken zu machen. Bis dann.«
Konsterniert stellte Pancho fest, dass sie fast eine halbe Stunde am Schreibtisch gesessen hatte, ohne das Telefon anzuweisen, die Nachricht zu senden.
»Ach du Scheiße, senden«, sagte sie schließlich.
Das Hauptquartier der Internationalen Astronautenbehörde befand sich noch immer offiziell in Zürich, doch wurde das operative Geschäft nun von St. Petersburg aus betrieben.
Durch die globale Erwärmung waren die meisten Schweizer Gletscher geschmolzen, und die Schneekappen der Alpen hatten sich in reißende, mörderische Fluten verwandelt, die einen Umzug erzwungen hatten. Die Verwaltungsangestellten und Juristen, die nach Russland versetzt worden waren, beklagten sich, dass sie von der Treibhausklippe gestoßen worden seien.
Zu ihrer Überraschung war St. Petersburg jedoch eine reizvolle und weltläufige Stadt und hatte so gar nichts von der grauen Tristesse, die sie befürchtet hatten. St. Petersburg hatte sogar von der Klimaerwärmung profitiert: Die Winter waren längst nicht mehr so lang und streng wie ehedem. Der Schnee fiel nun erst im Dezember und war im April in der Regel wieder getaut. Russische Ingenieure hatten in einer Kraftanstrengung einen Sperrriegel aus Wehren und Wellenbrechern im finnischen Meerbusen und in der Newa errichtet, um das ständig ansteigende Meer zurückzuhalten.
Obwohl das spätwinterliche Sonnenlicht sich durch eine schiefergraue Wolkendecke kämpfen musste, sah Erek Zar beim Blick aus dem Fenster seines Büros, dass nur noch wenig Schnee auf den Dächern lag. Es versprach, ein schöner Tag und ein schönes Wochenende zu werden. Zar lehnte sich auf dem Bürostuhl zurück, verschränkte die Hände hinterm Kopf und ließ den Blick über die Dächer in Richtung des schimmernden Hafens schweifen. Mit etwas Glück, sagte er sich, konnte er schon mittags gehen und das Wochenende mit seiner Familie in Krakau verbringen.
Er war deshalb nicht sehr begeistert, als Francesco Tomasselli mit einem besorgten Ausdruck in seinem dunklen Gesicht durch die Bürotür kam. Komisch, sagte Zar sich: Man sagt den Italienern doch nach, dass sie lebenslustige und heitere Menschen seien. Tomasselli machte jedoch immer einen total depressiven Eindruck. Er war so dürr wie ein Bündel Spaghetti und ein regelrechtes Nervenbündel. Zar hielt es eher mit Julius Cäsar in Shakespeare: ›Lasst dicke Männer um mich sein, mit glatten Köpfen und die nachts gut schlafen.‹ »Was gibt’s denn, Franco?«, fragte Zar in der Hoffnung, dass die Sache nicht zu ernst sei, um seine Reisepläne zu gefährden.
Tomasselli ließ sich auf den Polsterstuhl vor dem Schreibtisch sinken und seufzte schwer. »Es wird schon wieder ein Prospektorenschiff vermisst.«
Nun seufzte auch Zar. Er erteilte seinem Computer einen Sprachbefehl, worauf dieser unverzüglich den aktuellen Lagebericht aus dem Gürtel zeigte: Ein Raumschiff namens Star of the East war verschollen; seine Funkboje war verstummt, und die Telemetrie des Schiffs war ebenfalls abgebrochen.
»Das ist nun schon das dritte in diesem Monat«, sagte Tomasselli. Sein schmales Gesicht war von Sorgenfalten zerfurcht.
Zar breitete beschwichtigend die Hände aus und sagte: »Sie sind dort draußen an der Grenze zum Nichts und fliegen allein durch den Gürtel. Wenn ein Schiff Probleme bekommt, sind alle anderen zu weit entfernt, als dass sie ihm helfen könnten. Was erwartest du denn?«
Tomasselli schüttelte den Kopf. »Wenn ein Raumschiff Probleme bekommt, wie du dich ausdrückst, erscheint es in der Telemetrie. Es wird ein Notruf abgesetzt. Man bittet um Hilfe oder um Rat.«
Zar zuckte die Achseln.
»Es kommt immer wieder vor, dass Schiffe in Not geraten und Besatzungen sterben, weiß Gott«, fuhr Tomasselli fort, wobei am Ende fast aller seiner Worte ein schwacher Vokal nachhallte. »Diese drei Fälle liegen aber anderes. Keine Notrufe, auch keine Telemetrie, die eine Panne oder einen Defekt angezeigt hätte. Sie sind einfach verschwunden — puff.«
Zar ließ sich das für einen Moment durch den Kopf gehen und fragte dann: »Hatten sie irgendwelche Asteroiden beansprucht?«
»Zumindest einer der drei: die Lady of the Lake. Zwei Wochen, nachdem das Schiff verschwunden und der Anspruch offiziell verfallen ist, wurde der Asteroid von einem Schiff im Besitz von Humphries Space Systems beansprucht: von der Shanidar.«