Kapitel 16
Das Management des Hotels Luna in Selene hatte schon ein paarmal gewechselt, seit es von der Yamagata Corporation erbaut worden war.
In diesen frühen Tagen, kurz nachdem die Mondsiedlung den kurzen, heftigen Krieg gegen die Vereinten Nationen gewonnen und die Unabhängigkeit erklärt hatte, schien der Tourismus eine sprudelnde Geldquelle für das neu gegründete Selene zu sein. Raumclipper, die von der Firma Masterson Aerospace im Weltraum montiert wurden, reduzierten die Transportkosten von der Erde auf ein Maß, wo auch der durchschnittlich begüterte Tourist — der Typ, der einen ›Abenteuerurlaub‹ in der Antarktis, dem Amazonas-Regenwald oder anderen, ebenso unwirtlichen wie exotischen Gefilden buchte — sich das größte Abenteuer überhaupt zu leisten vermochte: einen Flug zum Mond.
Leider fiel die Eröffnung des Hotels fast auf den Tag mit den ersten Vorboten der Klimakatastrophe zusammen. Nach fast einem halben Jahrhundert wissenschaftlicher Debatten und politischer Auseinandersetzungen bewirkten die in der Erdatmosphäre und den Weltmeeren akkumulierten Treibhausgase einen abrupten Übergang im Weltklima. Katastrophale Überschwemmungen zerstörten die meisten Küstenstädte. Erdbeben verwüsteten Japan und den Westen der Vereinigten Staaten. Gletscher und Eiskappen schmolzen ab und verursachten einen weltweiten Anstieg des Meeresspiegels. Das filigrane Geflecht der Stromleitungen riss in großen Teilen der Welt und warf mehrere hundert Millionen Menschen in die Kälte und Dunkelheit des vorindustriellen Zeitalters zurück. Über eine Milliarde Menschen verloren ihr Zuhause, ihre Heimat und ihr ganzes Lebenswerk. Hunderte Millionen kamen um.
Der Tourismus wurde zu einer Domäne der Superreichen, die auf ihren Geldbergen in Saus und Braus lebten, während ihre Mitmenschen bittere Not litten.
Das Hotel Luna wurde praktisch zu einem Geisterhaus, aber nie geschlossen. Jeder neue Eigentümer versuchte ebenso verbissen wie hoffnungsvoll und zugleich erfolglos, zumindest etwas Geld damit zu verdienen.
Einem aufmerksamen Betrachter hätte die prunkvolle und großzügige Lobby des Hotels leicht heruntergekommen angemutet: Die Teppiche waren an manchen Stellen schon fadenscheinig, die orientalischen Tische und Stühle waren teilweise verschrammt, und die schmuckvollen künstlichen Blumengebinde ließen so tief den Kopf hängen, dass eine Erneuerung unbedingt geboten schien.
Doch in Lars Fuchs’ Augen erschien die Lobby des Hotels Luna wie ein Palastgemach aus Tausendundeiner Nacht. Er und Amanda fuhren auf der Rolltreppe vom Hoteleingang oben auf der Grand Plaza abwärts. Glitzernde Vorhänge aus echtem, leibhaftigem Wasser strömten über schräge Granitplatten, die man aus dem Mondhochland gebrochen hatte. Das Wasser war natürlich wiederaufbereitet, aber dass es hier überhaupt Wasserspiele gab! Welche Eleganz!
»Schau!«, rief Fuchs und deutete auf die Becken, in die das Wasser sprudelte. »Fische! Lebendige Fische!«
Amanda neben ihm lächelte und nickte. Sie war vor Jahren ein paarmal bei Verabredungen ins Hotel ausgeführt worden. Sie erinnerte sich an das Restaurant Erdblick mit den Hologramm-Fenstern. Martin Humphries war mit ihr hier gewesen. Die Fische in diesen Becken standen auf der Speisekarte des Restaurants. Amanda sah jedoch, dass der Fischreichtum im Vergleich zu damals stark abgenommen hatte.
Als sie die Etage der Lobby erreichten und von der Rolltreppe hinuntertraten, erkannte Fuchs die Musik, die leise aus den Deckenlautsprechern drang: ein Haydn-Quartett. Bezaubernd. Trotzdem fühlte er sich in seinem schlichten grauen Overall hier völlig fehl am Platz. Mit Amanda am Arm spielte das aber keine Rolle. Sie trug einen ärmellosen weißen Hosenanzug; obwohl der Reißverschluss bis zum Hals geschlossen war, vermochte er die anmutigen Rundungen ihres Körpers nicht zu verbergen.
Fuchs fiel gar nicht auf, dass die weitläufige Lobby praktisch leer war. Die beruhigende Stille war einmal eine wohltuende Abwechslung nach dem permanenten Surren der Lüfterventilatoren und dem leisen Schnattern der Pumpen, die Teil des alltäglichen Hintergrunds von Ceres waren.
Als sie die Rezeption erreichten, erinnerte Fuchs sich wieder in aller Deutlichkeit, dass Martin Humphries ihre Hotelrechnung zahlte. Humphries hatte darauf bestanden. Fuchs wollte dagegen protestieren, als sie mit einem von Humphries’ Fusionsschiffen von Ceres nach Selene flogen, doch Amanda hatte ihm das ausgeredet.
»Soll er doch für das Hotel zahlen, Lars«, hatte sie mit einem wissenden Lächeln gesagt. »Ich bin sicher, dass er es von der Summe abziehen wird, die er dir für Helvetia zahlt.«
Widerwillig hatte Fuchs sich von ihr überreden lassen, Humphries’ großzügiges Angebot zu akzeptieren. Und wo er nun an der Rezeption stand, reute es ihn schon wieder.
Bei der Eröffnung des Hauses als Yamagata Hotel hatte es uniformierte männliche und weibliche Pagen gegeben, die das Gepäck trugen und Zimmerservice-Orders ausführten. Diese Zeiten waren längst passe.
An der Rezeption aus poliertem schwarzem Basalt war nur ein Angestellter zu sehen. Er drückte auf eine Taste: Eine selbst fahrende Karre kam summend aus einer verborgenen Nische zu Fuchs und Amanda gerollt. Sie stellten die beiden Reisetaschen darauf, und die Karre folgte ihnen zum Aufzug, der sie zur Etage hinunterbrachte, wo ihre Suite sich befand.
Fuchs machte noch größere Augen, als sie erst einmal die Suite betraten.
»Luxus«, sagte er, und ein verhaltenes Lächeln hellte sein ansonsten griesgrämiges Gesicht auf. »Das ist echter Luxus.«
Selbst Amanda schien beeindruckt. »Ich bin noch nie in einem der Hotelzimmer gewesen.«
Plötzlich wich Fuchs’ Lächeln einem argwöhnischen Blick. »Er hat die Räume vielleicht verwanzt.«
»Wer? Martin?«
Fuchs nickte bedächtig, als ob er Angst hätte zu reden.
»Wieso sollte er die Räume denn verwanzen?«
»Um zu erfahren, was wir ihm sagen wollen, wie unsere Verhandlungsposition ist, welchen Betrag wir mindestens verlangen.« Da war noch mehr, aber er hatte Bedenken, es ihr zu sagen. Pancho hatte angedeutet, dass Humphries seine eigenen sexuellen Abenteuer im Schlafzimmer seines palastartigen Heims aufzeichnete. Ob der Mann auch in diesem Schlafzimmer Kameras versteckt hatte?
Abrupt ging er zur Telefonkonsole am Kopfende des Tisches und rief die Rezeption an.
»Sir?«, fragte das Bild des Angestellten auf dem Wandbildschirm. Eben hatte es noch ein Vickrey-Gemälde mit Nonnen und Schmetterlingen gezeigt.
»Diese Suite gefällt uns gar nicht«, sagte Fuchs, während Amanda ihn nur anstarrte. »Ist noch eine andere frei?«
Der Hotelangestellte grinste. »Yessir, wir hätten noch ein paar freie Suiten. Sie können sich eine aussuchen.«
Fuchs nickte. Humphries kann doch nicht alle verwanzt haben, sagte er sich.
»Ich freue mich über Ihren Entschluss, mich persönlich zu sprechen«, sagte Martin Humphries und lächelte hinter dem wuchtigen Schreibtisch. »Ich glaube, so können wir das Problem viel angenehmer lösen.«
Er lehnte sich zurück und neigte den Bürostuhl so stark, dass Fuchs schon glaubte, der Mann wollte die Füße auf den Schreibtisch legen. Humphries schien sich pudelwohl zu fühlen im Büro des Anwesens, das er sich tief unter der Mondoberfläche errichtet hatte. Fuchs saß angespannt auf dem gepolsterten Armstuhl vorm Schreibtisch; er spürte Unbehagen und Argwohn und fühlte sich eingeengt durch den grauen Geschäftsanzug, den Amanda ihm zu einem horrenden Preis im Laden des Hotels gekauft hatte. Er hatte Amanda im Hotel zurückgelassen; er wollte nämlich nicht, dass sie gleichzeitig in einem Raum mit Humphries war. Sie hatte seinem Wunsch entsprochen und sagte ihrem Mann, dass sie in der Grand Plaza einen Einkaufsbummel machen würde, während er in der Besprechung war.