Nodon erhob sich vom Sitz. »Und die zweite Priorität?«, fragte er nach kurzem Zögern.
»Wir müssen sehen, ob wir eine Flugbahn einschlagen können, die uns in die Nähe von Ceres bringt, bevor wir verhungern.«
Kapitel 20
Amanda wäre zu gern noch für ein paar Tage in Selene geblieben, doch Fuchs bestand darauf, dass sie sobald wie möglich wieder nach Ceres aufbrachen. Er hatte von Pancho erfahren, dass am nächsten Tag ein Astro-Schiff nach Ceres starten würde; es war mit Ausrüstung beladen, die Helvetia noch vor dem Brand im Lagerhaus bestellt hatte.
»Wir werden mit diesem Schiff zurückfliegen«, sagte Fuchs zu seiner Frau.
»Aber das ist doch ein Frachter. Er hat keine Unterbringungsmöglichkeiten für Passagiere«, wandte Amanda ein.
»Wir werden mit dem Schiff zurückfliegen«, wiederholte er und starrte grimmig geradeaus.
Amanda fragte sich, wieso ihr Mann darauf bestand, so schnell wie möglich zurückzukehren. Sie packte widerwillig ihre Reisetasche, während Fuchs Pancho anrief, um den Flug zu arrangieren.
Am nächsten Morgen fuhren sie auf der automatisierten kleinen Zugmaschine durch den Tunnel, der zum Raumhafen Armstrong führte, und gingen an Bord des spinnenbeinigen Shuttles, das sie zur Harper hinaufbringen würde. Das Schiff befand sich auf einer Mondumlaufbahn, rotierte aber mit einem Sechstel Ge. Fuchs war dankbar, dass er die Schwerelosigkeit nur für die paar Minuten würde aushalten müssen, die der Zubringer für den Flug brauchte.
»Das neueste Schiff im Sonnensystem«, sagte der Kapitän, als er sie an Bord begrüßte. Er war jung, schlank, gut aussehend und bewunderte unverhohlen Amandas frauliche Formen. Fuchs, der neben ihr stand, fasste seine Frau besitzergreifend am Arm.
»Leider ist es nicht für die Beförderung von Passagieren ausgelegt«, sagte der Kapitän, während er sie durch den Mittelgang des Habitatmoduls führte. »Ich kann Ihnen höchstes diese Kabine anbieten.«
Er schob eine ziehharmonikaartige Tür zurück. Die Kabine war gerade einmal so groß, dass zwei Personen darin zu stehen vermochten.
»Sie ist ziemlich klein«, sagte der Kapitän um Entschuldigung heischend und lächelte Amanda an.
»Das wird schon reichen«, sagte Fuchs. »Der Flug dauert ja nur sechs Tage.«
Er ging vor Amanda ins Abteil.
»Wir scheren in dreißig Minuten aus dem Orbit aus«, sagte der Kapitän, der draußen auf dem Gang stehen geblieben war.
»Gut«, sagte Fuchs. Dann schob er die Tür zu.
»Lars, du warst definitiv unhöflich zu ihm!«, sagte Amanda kichernd.
»Ich glaubte schon, ihm würden die Augen aus dem Kopf fallen, so hat er dich angestarrt«, sagte er grinsend.
»Ach Lars, das hat er doch gar nicht. Oder etwa doch?«
»Ganz bestimmt hat er das.«
»Was glaubst du, was dabei in seinem Kopf vorging?«, fragte Amanda mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck.
»Ich werde es dir zeigen«, sagte er mit einem wölfischen Grinsen.
Die vierteljährlichen Vorstandssitzungen der Astro Manufacturing Corporation, die vor der tropischen Kulisse von LaGuaira an der Karibikküste Venezuelas stattfanden, hatten den Charakter kriegerischer Auseinandersetzungen angenommen. Martin Humphries hatte sich eine Hausmacht geschaffen und versuchte die Kontrolle über den Vorstand zu erringen. Seine Gegenspielerin war Pancho Lane, die in den fünf Jahren im Vorstand ebenfalls gelernt hatte, einen Stimmenblock auf sich zu vereinigen.
Die Vorstandsvorsitzende, Harriet O’Banian versuchte, nach Möglichkeit nicht zwischen die Fronten zu geraten. Sie war nämlich der Auffassung, dass ihr Auftrag allein darin bestand, Astro so profitabel wie möglich zu machen. Und ein großer Teil dessen, was Humphries unternehmen wollte, war wirklich gewinnträchtig, auch wenn Pancho praktisch jeden Vorschlag ablehnte, den Humphries oder einer seiner Leute vorlegte.
Doch nun machte Pancho einen Vorschlag, der auf eine ganz neue Produktlinie für Astro hinauslaufen würde, und Humphries betrieb Totalopposition.
»Gas von der Jupiteratmosphäre abzapfen?«, sagte Humphries spöttisch. »Vermag man sich etwas vorzustellen, das noch riskanter wäre?«
»Ja«, sagte Pancho schroff. »Zuzulassen, dass jemand anders einen Fuß in die Tür des Fusionsbrennstoff-Markts bekommt.«
Temperamentsausbrüche waren der rothaarigen Hattie O’Banian selbst nicht fremd. Aber nicht, wenn sie dem Vorstand vorsaß. Sie klopfte mit den Fingerknöcheln auf den langen Konferenztisch. »Wir werden die Ordnung hier einhalten«, sagte sie bestimmt. »Mr. Humphries hat das Wort.«
Pancho ließ sich wieder auf den Stuhl fallen und nickte pikiert. Sie saß Humphries am Tisch fast genau gegenüber. O’Banian musste an sich halten, um sie nicht anzulächeln. Pancho hatte große Fortschritte gemacht, seit sie quasi als ungeschliffener Diamant in den Vorstand gekommen war. Hinter dem Westtexas-Slang und dem Flintenweibgebaren verbargen sich hohe Intelligenz, schnelle Auffassungsgabe und die Fähigkeit, mit der Intensität eines Laserstrahls sich auf ein Thema zu konzentrieren. Mit Hatties Hilfe hatte Pancho sich die Etikette eines Vorstandsmitglieds angeeignet: Heute trug sie einen rosefarbenen Hosenanzug, der mit dezentem Schmuck akzentuiert war. Trotzdem fand Hattie, dass sie ihr burschikoses Wesen auf Dauer nicht zu unterdrücken vermochte. Sie sah so aus, als ob sie sich am liebsten über den Tisch gebeugt und Humphries eine vor den Latz geknallt hätte.
Was Humphries betraf, so schien er sich in einem legeren dunkelblauen Strickanzug und einem hellgelben Stehkragenhemd pudelwohl zu fühlen. Er versteht es, sich zu kleiden, sagte Hattie sich, und er versteht es noch besser, seine Gedanken zu verbergen.
»Martin«, sagte O’Banian. »Haben Sie dem noch etwas hinzuzufügen?«
»Gewiss«, sagte Humphries mit einem listigen Lächeln. Er richtete für ein Moment den Blick auf Pancho und schaute dann wieder auf O’Banian. »Ich bin gegen unausgegorene Pläne, die einen Goldschatz am Ende des Regenbogens verheißen, in Wirklichkeit aber mit untragbaren technischen Risiken behaftet sind. Und mit Risiken für Menschen. Ein Schiff auf eine Himmelfahrtsmission zum Jupiter zu entsenden, um Wasserstoff- und Heliumisotope aus der Atmosphäre dieses Planeten zu schöpfen, ist schlicht und ergreifend totaler Wahnsinn.«
Ein halbes Dutzend der Vorstandsmitglieder nickten zustimmend. O’Banian sah, dass auch ein paar darunter waren, die bei diesen Auseinandersetzungen normalerweise nicht auf Humphries’ Seite standen.
»Ms. Lane? Haben Sie noch mehr zur Unterstützung Ihres Vorschlags vorzubringen?«
Pancho setzte sich stocksteif auf und schaute Humphries direkt ins Gesicht. »Auf jeden Fall. Ich habe die Fakten präsentiert, die technische Analyse, die Kostenschätzungen und die Gewinnprognosen. Aus den Zahlen geht hervor, dass die Abschöpfung von Fusionsbrennstoffen innerhalb der Möglichkeiten der bestehenden Technologie liegt. Es muss nichts Neues erfunden werden.«
»Ein Schiff soll im Sturzflug in die Jupiteratmosphäre eintauchen und seine Gase abschöpfen?«, platzte einer der älteren Männer am Tisch heraus. Er hatte ein pausbäckiges rotes Gesicht und eine Glatze.
Pancho bedachte ihn mit einem angestrengten Lächeln. »Ein Schiff, das vom Jupiterorbit aus in Telepräsenz gesteuert wird. Es ist durchaus im Bereich des Machbaren.«
»Es gibt im Jupitersystem aber noch keine Basis für eine Telepräsenzmannschaft; wir würden sie erst einrichten müssen.«
»Das ist wahr«, sagte Pancho gleichmütig. »Ich habe auch nicht behauptet, dass die Infrastruktur schon existiert. Aber es ist innerhalb unserer Möglichkeiten. Wir müssen die Basis nur bauen und testen.«
»Aber zu welchen Kosten?«, fragte die grauhaarige Frau, die zwei Stühle von Pancho entfernt saß.