Überhaupt war Stavenger kein gewöhnlicher Mensch. Seine Familie hatte die ursprüngliche Mondbasis gegründet und sie aus einer kleinen Forschungsstation in ein großes Zentrum für die Nanomaschinenfertigung von Raumschiffen verwandelt. Stavenger selbst hatte den ebenso kurzen wie heftigen Kampf gegen die alte UN geführt, durch den die Mondsiedlung die Unabhängigkeit von der Weltregierung erlangt hatte. Er hatte auch den Namen Selene ausgewählt.
Mit Verwoerd am Arm schob Humphries sich durch die angeregt plaudernde Menge aus Männern im Smoking und schmuckbehängten Frauen im Abendkleid, bis sie Stavenger und Pancho erreicht hatten. Er drängte sich fast zwischen die beiden.
»Hallo, Martin«, sagte Stavenger mit einem ruhigen Lächeln. Er war ein stattlicher Mann mit einem Gesicht, das zwischen markant und schön changierte. Seine Haut war etwas heller als Panchos und hatte eine tiefgoldene Farbe. Humphries war immer wieder erstaunt, wenn er sah, dass Stavenger deutlich größer war als er; die kompakte Statur und die breiten Schultern des Mannes kaschierten seine wahre Größe.
»Es sieht so aus, als ob Sie heute Abend halb Selene mobilisiert hätten«, sagte er, ohne sich indes die Mühe zu machen, Verwoerd vorzustellen.
Stavenger lachte ungezwungen. »Die andere Hälfte tritt in der Oper auf.«
Humphries sah, dass die beiden Frauen sich von Kopf bis Fuß musterten und taxierten wie zwei Gladiatoren, die die Arena betraten.
»Wer ist denn Ihre Freundin?«, fragte Pancho. Sie trug auch ein bodenlanges Kleid, das tiefschwarz war wie die Smokings der Männer. Ihr kurz geschnittenes Haar war mit irgendeinem Glitzerzeug bestäubt. Das Diamanthalsband und —armband, das sie trug, bestand wahrscheinlich aus Asteroidengestein, mutmaßte Humphries.
»Diane Verwoerd«, sagte Humphries. »Pancho Lane. Doug kennen Sie bereits, nicht wahr?«
»Sein Ruf eilt ihm voraus«, sagte Verwoerd mit ihrem strahlendsten Lächeln. »Und ich freue mich auch, endlich einmal Ihre Bekanntschaft zu machen, Ms. Lane.«
»Pancho.«
»Pancho will mich überreden, in eine Forschungsstation zu investieren, die im Jupiter-Orbit eingerichtet werden soll«, sagte Stavenger.
Darum geht es also, sagte Humphries sich.
»Selene erzielt einen ordentlichen Gewinn mit dem Bau von Raumschiffen«, sagte Pancho. »Und der Gewinn ließe sich sogar noch steigern, wenn man Fusionsbrennstoffe vom Jupiter importiert.«
»Was sie sagt, hat Hand und Fuß«, sagte Stavenger. »Was halten Sie eigentlich von der Idee, Martin?«
»Ich bin definitiv dagegen«, sagte Humphries unwirsch. Als ob er das nicht wüsste, sagte er sich grummelnd.
»Das ist mir auch schon zu Ohren gekommen«, gestand Stavenger.
Eine Glocke läutete im Dreiklang. »Zeit zum Dinner«, sagte Stavenger und trug Pancho seinen Arm an. »Kommen Sie, Martin, lassen Sie uns beim Essen darüber reden.«
Humphries folgte ihm zu den Tischen, die auf dem gepflegten Rasen vorm Amphitheater aufgebaut waren. Verwoerd ging neben ihm; sie war davon überzeugt, dass die vier auch bei der Oper über dieses Jupiter-Geschäft sprechen würden — sogar bei den Lodernden Flammen.
Das sollte ihr nur recht sein. Denn sie hasste den ›Troubadour‹.
Kapitel 29
Während Nodon in der Ladebucht zugange war, gelang es Fuchs endlich, George aus der Küche zu lotsen und mit ihm auf die Brücke zu gehen.
»Du musst das Vorkommnis der IAA melden«, sagte Fuchs und setzte sich auf den Kommandantensitz.
George nahm den Sitz des Copiloten ein; er quoll förmlich über. Er war vielleicht ausgehungert, sagte Fuchs sich, aber Gewicht hatte er trotzdem kaum verloren.
»Liebend gern, Kumpel«, sagte George jovial. »Hol sie nur an die Strippe.«
Fuchs befahl dem Kommunikationscomputer, Francesco Tomasselli im IAA-Hauptquartier in Sankt Petersburg anzurufen.
»Oh, oh«, sagte George.
Fuchs sah, dass er auf den Radarschirm zeigte. Ein einzelnes Echo erschien in der oberen rechten Ecke des Bildschirms.
»Er ist hier«, sagte George.
»Es könnte auch ein Asteroid sein«, hörte Fuchs sich sagen, obwohl er es selbst nicht glaubte.
»Es ist ein Schiff.«
Fuchs machte eine Tastatureingabe. »Ein Schiff«, stimmte er ihm dann zu. »Und es ist auf einem Abfangkurs.«
»Ich sollte mir lieber einen Anzug anziehen und zu Nodon in die Ladebucht gehen. Du legst auch den Anzug an.«
Während er George zur Luftschleusenkammer folgte, wo die Raumanzüge aufbewahrt wurden, hörte Fuchs die synthetische Stimme des Kommunikationscomputer: »Signor Tomasselli ist zurzeit nicht erreichbar. Möchten Sie eine Nachricht hinterlassen?«
Eine Viertelstunde später war er wieder auf der Brücke. Er trug nun den klobigen Raumanzug und fühlte sich darin wie in einer mittelalterlichen Ritterrüstung.
Das Radarecho stand bereits in der Mitte des Monitors. Fuchs warf einen Blick aus dem Fenster, vermochte in der dunklen Leere aber nichts zu erkennen.
»Er nähert sich uns noch immer?«, ertönte Georges Reibeisenstimme im Helmlautsprecher.
»Ja.«
»Wir haben den Laser an die Hauptstromversorgung angeschlossen. Unsere ist ausgefallen; irgendetwas hat sie lahm gelegt.«
»Aber die hier funktioniert?«
»Ja. Dreh das Schiff, damit wir ihn ins Blickfeld bekommen.«
»George«, sagte Fuchs, »angenommen, es ist nicht das Schiff, das euch angegriffen hat?«
Es trat ein kurzes Schweigen ein. »Du meinst, jemand würde rein zufällig hier vorbeikommen? Das ist verdammt unwahrscheinlich.«
»Schießt erst auf ihn, wenn er auf uns feuert«, sagte Fuchs.
»Du hörst dich an wie ein verdammter Yankee«, grummelte George. »Nicht schießen, ehe ihr nicht das Weiße in ihren Augen seht.«
»Ich wollte damit nur sagen …«
Der Kommunikationsbildschirm leuchtete plötzlich hell auf und wurde wieder dunkel. Mit behandschuhten Fingern gab Fuchs einen Diagnosebefehl ein.
»Ich glaube, er hat die Hauptantenne getroffen«, sagte er zu George.
»Dreh das verdammte Schiff, damit ich zurückschießen kann!«
Der Luftdruck-Alarm schrillte, und Fuchs hörte die Sicherheitsluke hinter sich zuschlagen.
»Er hat ein Loch in die Hülle geschossen!«
»Wende, verdammt noch mal!«
Fuchs hoffte, dass die Steuerung noch funktionierte und hörte zugleich eine ängstliche Stimme im Kopf: Mein Gott, wir sind in einem Raumkampf!
Es scheint doch noch zu klappen, sagte Harbin sich.
Der erste Schuss hatte die Hauptkommunikationsantennen der Starpower zerstört. Und gerade noch rechtzeitig. Fuchs hatte nämlich schon einen Ruf an die IAA auf der Erde abgesetzt.
Mit dem zweiten Schuss hatte er ihr Habitatmodul perforiert — dessen war er sich sicher. Sie drehten das Schiff und versuchten das Habitatmodul zu schützen, indem sie es hinter die Ladebucht manövrierten. Harbin studierte die Risszeichnung der Starpower, während er wartete, bis der Laser wieder aufgeladen war.
Es hatte keinen Sinn, Zeit und Energie zu vergeuden. Er wollte eigentlich auf die Treibstofftanks schießen, damit sie ausliefen und das Schiff hilflos immer tiefer in den Gürtel driftete.
Doch dann schüttelte er den Kopf. Nein, zuerst muss ich die Antennen zerstören. Und zwar alle. Sie könnten sonst die IAA um Hilfe rufen, während ich die Tanks durchlöchere. Sie könnten die ganze Geschichte erzählen, bevor sie abdriften und verhungern. Wenn sie bei Verstand wären, würden sie nun auf allen Frequenzen senden. Sie müssen aber in Panik geraten sein und vermögen vor lauter Angst keinen klaren Gedanken mehr zu fassen.