»Sie sind zu liebenswürdig, Mr. Stavenger«, sagte sie und setzte sich auf den Stuhl. Angesichts ihrer zarten Statur schien der Stuhl viel zu groß für sie.
»Meine Freunde nennen mich Doug.«
»Schön. Und Sie müssen mich Jatar nennen.«
»Gern«, sagte er und setzte sich neben sie. »In Selene liegt Ihnen jeder zu Füßen. Unsere Leute freuen sich sehr über Ihren Besuch.«
»Das ist das erste Mal, dass ich die Erde verlassen habe«, sagte sie. »Außer bei den zwei Videos, die wir in der Raumstation Neues China produziert haben.«
»Ich habe diese Videos gesehen«, sagte Stavenger.
»Aha. Ich hoffe, sie haben Ihnen gefallen.«
»Sogar sehr«, sagte er. Dann zog er seinen Stuhl etwas näher zu ihr heran und fragte: »Was kann ich persönlich tun, um Ihren Besuch … produktiver zu gestalten?«
Sie schaute zur Decke hinauf. »Sind wir allein?«
»Ja«, versicherte Stavenger ihr. »Hier gibt es keine Abhörgeräte oder Wanzen.«
»Gut«, sagte sie. Ihr Lächeln war plötzlich verflogen. »Die Nachricht, die ich überbringe, ist nämlich nur für Sie bestimmt.«
»Ich verstehe«, sagte Stavenger genauso ernst.
Jatar Pahang war nicht nur der populärste Videostar der Welt; sie war auch die Mätresse von Xu Xianqing, dem Vorsitzenden des inneren Kreises der Weltregierung und seine Geheimbotschafterin für Stavenger und die Regierung von Selene.
Kapitel 45
Die Kunst des Regierens, sagte Xu Xianqing sich, hat viel mit der Kunst des Klavierspiels gemeinsam: Die eine Hand darf nicht wissen, was die andere tut.
Es war ein langer, gefährlicher Weg an die Spitze der Weltregierung gewesen. Xianqing hatte viele Freunde, sogar Mitglieder seiner eigenen Familie über die Klinge springen lassen, während er die stürmischen Höhen der politischen Macht erklomm. Die Lehren von Kung Fu-Tse waren nach außen hin sein moralischer Wegweiser gewesen; die Schriften Machiavellis seine Gebrauchsanweisung. Während der Jahre des Kampfes und des Strebens nach oben hatte er sich des Öfteren gefragt, wieso er — oder sonst jemand — diesen Versuch überhaupt unternahm. Wieso will ich immer höher hinaus, fragte er sich. Wieso nehme ich solche Schmerzen auf mich, solche Risiken und diese unendlichen Mühen?
Darauf fand er nie eine zufrieden stellende Antwort. Ein religiöser Mensch hätte vielleicht gesagt, dass er für diesen Dienst auserwählt sei, doch Xianqing war kein Mann des Glaubens. Vielmehr betrachtete er sich selbst als einen Fatalisten und sagte sich, die blinden Kräfte der Geschichte hätten ihn irgendwie in diese Machposition befördert.
Und ihm diese Verantwortung auferlegt. Vielleicht war das die eigentliche, ultimative Antwort. Xianqing wusste nämlich, dass mit Macht und Autorität auch Verantwortung einherging. Der Planet Erde war wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit in seiner Existenz bedroht. Das Klima schwankte so abrupt, dass man die Auswirkungen der plötzlichen, verheerenden Fluten und Dürren nicht unter Kontrolle bekam. Es gab ständig Erdbeben. Städte versanken in den Fluten des ansteigenden Meeres. Ackerland wurde erst von sintflutartigen Regenfällen in Schlamm verwandelt, und dann wurde der Mutterboden von Wirbelstürmen fortgerissen. Millionen Menschen waren schon gestorben, und Hunderte von Millionen waren heimatlos und vom Hungertod bedroht.
In vielen Ländern suchten die verwirrten, verzweifelten Menschen Hilfe und Halt bei religiösen Fundamentalisten. Sie gaben ihre individuelle Freiheit für Ordnung und Sicherheit her. Und für Nahrung.
Und Xianqing wusste, dass die menschlichen Siedlungen auf dem Mond und im Asteroidengürtel so lebten, als ob die Not ihrer Brüder auf der Erde sie überhaupt nichts anginge. Sie geboten über sagenhaften Reichtum: Energie, die die Menschen auf der Erde dringend benötigten, und Rohstoffe, wie sie Mutter Erde ihren verelendeten und verzweifelten Kindern nicht zu bieten vermochte.
Die großen Konzerne verkauften Fusionsbrennstoffe und Sonnenenergie an die Reichen der Erde. Sie verkauften Metalle und Mineralien von Asteroiden an jene, die es sich leisten konnten. Wie vermag ich sie zu überzeugen, großzügiger und hilfsbereiter zu sein, fragte Xianqing sich jeden Tag, jede Stunde.
Es gab für ihn nur einen gangbaren Weg: die Kontrolle über die Reichtümer des Asteroidengürtels zu übernehmen. Die Narren, die diese dunkle und ferne Region durchpflügten, die Prospektoren und Bergleute und ihre Konzernherren, bekämpfen sich gegenseitig. Die alte Geißel der Piraterie feierte draußen zwischen den Asteroiden wieder fröhliche Urständ. Mord und Gewalt waren an der Tagesordnung.
Die Weltregierung konnte ein Expeditionskorps aus Friedenstruppen nach Ceres entsenden, um die Ordnung wiederherzustellen, sagte Xianqing sich. Wir könnten der Gewalt ein Ende bereiten und die Region befrieden. Und dadurch könnten wir zugleich die Kontrolle über diese wertvollen Ressourcen erlangen. Die Prospektoren und Bergleute würden natürlich protestieren. Die Konzerne würden aufheulen. Aber was sollten sie schon tun, wenn sie vor vollendete Tatsachen gestellt würden? Was sollten sie wohl gegen die Durchsetzung von Recht und Gesetz in diesem mörderischen Abschnitt des Sonnensystems einwenden?
Etwas stand dieser Durchführung jedoch entgegen: Selene.
Die Bevölkerung der Mondgemeinschaft hatte für ihre Unabhängigkeit gekämpft und sie auch errungen. Sie würde nicht untätig zusehen, wie die Weltregierung die Kontrolle über den Asteroidengürtel übernahm. Ob sie kämpfen würde? Xianqing befürchtete, dass sie es tun würde. Es wäre kein Problem für sie, von der Erde gestartete Raumschiffe anzugreifen. Wir leben auf dem Grund einer Gravitationsquelle, sagte Xianqing sich. Während unsere Schiffe sich mühsam durchs All kämpfen, könnte Selene sie der Reihe nach zerstören. Und noch schlimmer, uns die Versorgung mit Energie und Rohstoffen aus dem All abschneiden. Dann wird die Erde vollends in die Steinzeit zurückfallen.
Nein, eine direkte militärische Intervention im Gürtel wäre kontraproduktiv — es sei denn, Selene könnte neutralisiert werden.
Wenn ich schon kein Eroberer sein kann, sagte Xianqing sich, dann will ich wenigstens ein Friedensstifter werden. Ich werde alles daransetzen, die Kämpfe im Asteroidengürtel zu beenden und den Dank zukünftiger Generationen zu ernten.
Sein erster Schritt bestand darin, durch seine schöne Mätresse einen geheimen Kontakt mit Douglas Stavenger aufzunehmen.
Kapitel 46
»Das wird nicht funktionieren, Lars«, sagte Boyd Nielson.
»Lass das nur meine Sorge sein«, murmelte Fuchs.
»Aber ein paar von den Leuten da unten sind doch nur Bauarbeiter«, sagte Nielson flehentlich. »Ein paar von ihnen sind sogar unsere Freunde, um Gottes willen!«
Fuchs wandte sich ab. »Da kann man nichts machen«, knurrte er. »Sie sollten eben nicht für Humphries arbeiten.«
Nielson war ein Mitarbeiter von Humphries Space Systems?? der Kommandant des Erzfrachters William C. Durant, aber er war in den frühen Tagen von Ceres ein Freund von Fuchs gewesen, bevor der ganze Ärger begonnen hatte.
Fuchs hatte die Durant geortet, als das Schiff Asteroiden abklapperte und Erzladungen aufnahm, die für das Erde-/Mondsystem bestimmt waren. Mit ein paar Besatzungsmitgliedern hatte Fuchs Nielsons Schiff geentert und übernommen.
Angesichts des halben Dutzend grimmig dreinschauender, bewaffneter Männer und Frauen hatten Nielson und seine Besatzung auf jede Gegenwehr verzichtet. Nachdem er die Positionsboje und die gesamte Kommunikationsanlage stillgelegt hatte, änderte Fuchs den Kurs der Durant auf den großen Asteroiden Vesta.
»Vesta?«, hatte Nielson verwirrt gefragt. »Wieso gerade dorthin?«
»Weil dein Arbeitgeber, der hohe und herrschaftliche Mr. Martin Humphries, dort einen Militärstützpunkt errichtet«, sagte Fuchs ihm.