Er hatte insofern Glück, dass man ihn in der Nähe des Eingangs zum regionalen Hauptquartier der Neuen Moralität ausgesetzt hatte. Die Staatsreligion der Philippinen war noch immer der Katholizismus, doch Mutter Kirche hatte widerstrebend zugelassen, dass die protestantischen Reformer mit einem Minimum an Beeinträchtigungen in der Inselnation wirken durften. Schließlich vertraten die konservativen Bischöfe, die die Kirche der Philippinen führten und die Konservativen, die die Neue Moralität leiteten, in vielerlei Hinsicht den gleichen Standpunkt, einschließlich der Geburtenkontrolle und des strengen Gehorsams gegenüber moralischen Autoritäten. Darüber hinaus brachte die Neue Moralität Geld von Amerika zu den Philippinen. Ein kleiner Teil davon gelangte sogar bei den Armen an.
Also wurde Oskar Jiminez ein Mündel der Neuen Moralität. Unter ihrer strengen Obhut endete sein Leben als Straßenjunge. Er wurde auf eine Schule der Neuen Moralität geschickt, wo er lernte, dass gnadenlose psychologische Konditionierungsmethoden noch viel schlimmer waren als Schläge durch die Polizei. Vor allem die Konditionierungssitzungen, bei denen Elektroschocks angewandt wurden.
Oscar avancierte schnell zum Musterschüler.
Kapitel 4
Kris Cardenas sah noch immer kaum älter aus als dreißig. Selbst in einem schmutzigen, schäbigen Weltraum-Habitat, das aus einem von Ceres’ unzähligen Höhlen gehauen war, wirkte sie mit ihren saphirblauen Augen und den athletischen Schultern wie eine kalifornische Surferin.
Das lag daran, dass ihr Körper mit therapeutischen Nanomaschinen gespickt war — virengroßen Geräten, die Fett- und Cholesterolmoleküle im Blut zerlegten, beschädigte Zellen reparierten und die Haut glatt und die Muskeln straff hielten. Die Nanomaschinen fungierten als zielgerichtetes Immunsystem, das den Körper vor eindringenden Mikroben schützte. Nanotechnologie war auf der Erde verboten; Dr. Kristin Cardenas, Nobelpreisträgerin und ehemalige Leiterin des Nanotechnologie-Labors von Selene, war in Ceres im Exil.
Für eine Exilantin, die sich für ein Leben an der Grenze der menschlichen Zivilisation entschieden hatte, wirkte sie jedoch fröhlich und heiter, als sie Amanda und Lars Fuchs begrüßte.
»Wie geht es Ihnen beiden?«, fragte sie und führte sie in ihr Quartier. Der gewundene Tunnel vor der Tür war eine natürliche Lavaröhre, die grob geglättet worden war. Die Luft dort draußen war leicht diesig wegen des Feinstaubs; wenn jemand in Ceres sich bewegte, wirbelte er jedes Mal den Gesteinsstaub auf, und wegen der geringen Schwerkraft des Asteroiden hing der Staub dann ständig in der Luft.
Amanda und Fuchs schlurften über den nackten Felsboden von Cardenas’ Unterkunft und gingen zur Couch — eigentlich zwei Liegesitze, die aus einem Raumschiff ausgebaut worden waren, das auf Ceres notgelandet war. Die Sicherheitsgurte baumelten noch immer an den Seiten. Fuchs hustete, als er sich hinsetzte.
»Ich werde die Ventilatoren einschalten«, sagte Cardenas und ging zum Steuerpult, das in die entgegengesetzte Wand des Raums integriert war. »Damit der Staub sich setzt und das Atmen leichter fällt.«
Amanda hörte das Wimmern eines Lüfters irgendwo hinter den Wänden. Obwohl sie mit einer langärmeligen, hochschließenden Springerkombi bekleidet war, fror sie. Der nackte Fels fühlte sich immer kalt an. Wenigstens war er trocken. Und Cardenas hatte versucht, die unterirdische Kammer mit Holofenstern aufzupeppen, die Ansichten von bewaldeten Hügeln und Blumengärten auf der Erde zeigten. Sie hatte sogar ein dezentes Raumspray versprüht, dessen Duftnote Amanda daran erinnerte, wie sie als Kind in einer richtigen Badewanne mit warmem Wasser und duftender Seife gebadet hatte.
Cardenas zog einen alten Laborhocker unterm Tisch hervor, setzte sich den Besuchern gegenüber und hakte die Beine ein. »Wie geht es Ihnen?«, fragte sie ihre Besucher erneut.
Fuchs schaute sie fragend an. »Wir sind doch hergekommen, damit Sie es herausfinden.«
»Ach so, die Untersuchung.« Cardenas lachte. »Die findet morgen in der Klinik statt. Wie läuft das Geschäft? Was gibt’s Neues?«
»Ich glaube, dass wir imstande sind, das Habitatprojekt voranzutreiben«, antwortete Fuchs mit einem Seitenblick auf Amanda.
»Wirklich? Ist Pancho einverstanden …«
»Nicht mit Astros Hilfe«, sagte er. »Wir werden es aus eigener Kraft schaffen.«
Cardenas’ Augen verengten sich. »Halten Sie das denn für sinnvoll, Lars?«
»Wir haben im Grunde keine Wahl. Pancho würde uns helfen, wenn sie könnte, doch Humphries wird sie sofort blockieren, wenn sie die Sache im Astro-Vorstand auf die Tagesordnung setzt. Ihm ist nicht daran gelegen, dass wir die Lebensbedingungen hier verbessern.«
»Er will hier ein Depot einrichten«, sagt Amanda. »Das heißt, Humphries Space Systems will das tun.«
»Dann werden Sie und die anderen Felsenratten dieses Habitatprogramm also selbst finanzieren?«
»Ja«, sagte Fuchs bestimmt.
Cardenas erwiderte nichts. Sie umfing die Knie und schaukelte mit einem nachdenklichen Ausdruck leicht auf dem Hocker vor und zurück.
»Wir können es schaffen«, bekräftigte Fuchs.
»Sie werden ein Team von Spezialisten brauchen«, sagte Cardenas. »Das ist nichts, was Sie und Ihre Prospektorenkollegen einfach so improvisieren könnten.«
»Ja. Das weiß ich.«
»Lars, ich habe nachgedacht«, sagte Amanda langsam. »Während du an diesem Habitatprojekt arbeitest, wirst du doch hier in Ceres bleiben müssen, nicht wahr?«
Er nickte. »Ich habe schon mit dem Gedanken gespielt, die Starpower an jemanden zu vermieten und für die Dauer des Projekts hier im Asteroiden zu leben.«
»Und wie wollen Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen?«, warf Cardenas ein.
Er breitete die Hände aus. »Ich glaube, ich weiß es«, sagte Amanda, bevor er noch etwas erwidern konnte.
Fuchs schaute sie verwirrt an.
»Wir könnten Lieferanten für die anderen Prospektoren werden«, sagte Amanda. »Wir können ein eigenes Lagerhaus aufmachen.«
Cardenas nickte.
»Wir könnten als Zwischenhändler für Astro auftreten«, fuhr Amanda fort und wurde mit jedem Wort fröhlicher. »Wir beziehen die Waren von Pancho und verkaufen sie an die Prospektoren weiter. Wir könnten auch die Bergleute beliefern.«
»Die meisten Bergbauteams arbeiten aber für Humphries«, erwiderte Fuchs düster. »Oder für Astro.«
»Aber sie brauchen trotzdem Vorräte«, sagte Amanda nachdrücklich. »Selbst wenn sie die Ausrüstung von den Konzernen bekommen, benötigen sie noch immer Gegenstände des persönlichen Bedarfs: Hygieneartikel, Unterhaltungsvideos, Kleidung …«
Fuchs schnitt eine Grimasse. »Ich glaube nicht, dass du dich mit der Art von Unterhaltungsvideos abgeben willst, die diese Prospektoren bevorzugen.«
»Lars, wir könnten durchaus mit Humphries Space Systems konkurrieren, während du den Bau des Habitats leitest«, sagte Amanda ungerührt.
»Mit Humphries konkurrieren.« Fuchs ließ sich diese Idee förmlich auf der Zunge zergehen und kostete sie genüsslich aus. Dann grinste er, was selten genug vorkam. Sein breites, normalerweise düsteres Gesicht hellte sich auf. »Mit Humphries konkurrieren«, wiederholte er. »Ja. Ja, das können wir schaffen.«