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Einmal bin ich einfach nicht zum völkischen Donnerstag gegangen. Einfach war es nicht. In der Nacht davor gab es ein großes Erdbeben. In Bukarest war ein Mietshaus eingestürzt und hatte viele unter sich begraben. Bei uns in der Stadt waren nur Schornsteine abgestürzt und bei uns zu Hause nur zwei Ofenrohre auf den Fußboden gefallen. Das nahm ich mir zum Vorwand. Der Turnlehrer fragte nichts, doch bei mir im Kopf hatte das Krüppelturnen bereits gewirkt. Ich sah in diesem Ungehorsam den Beweis, dass ich wirklich ein Krüppel bin.

Mein Vater fotografierte in diesen aufregenden Zeiten sächsische Trachtenmädchen und Turnerinnen. Er hatte sich dafür sogar eine Leica gekauft. Und er wurde Sonntagsjäger. Montags sah ich ihm zu, wie er den geschossenen Hasen das Fell abzog. So nackig gehäutet, bläulichsteif und langgestreckt glichen die Hasen den sächsischen Turnerinnen an der Stange. Die Hasen wurden gegessen. Die Felle an die Schuppenwand genagelt und nach dem Trocknen auf den Dachboden in eine Blechtruhe gelegt. Alle halbe Jahr kam der Herr Fränkel sie abholen. Dann kam er nicht mehr. Mehr wollte man nicht wissen. Er war Jude, rotblond, groß, schlank fast wie ein Hase. Auch der kleine Ferdi Reich und seine Mutter, die bei uns unten im Hof wohnten, waren nicht mehr da. Mehr wollte man nicht wissen.

Es war leicht, nichts zu wissen. Es kamen Flüchtlinge aus Bessarabien und Transnistrien, sie wurden einquartiert, blieben und gingen wieder. Und es kamen deutsche Soldaten aus dem Reich, wurden einquartiert, blieben und gingen wieder. Und es gingen Nachbarn und Verwandte und Lehrer in den Krieg zu den rumänischen Faschisten oder zum Hitler. Und es kamen manche in den Fronturlaub und andere nicht. Und es gab Scharfmacher, die sich vor der Front drückten, aber zu Hause hetzten und in Uniform auf den Tanzball und ins Kaffeehaus gingen.

Auch der Naturkundelehrer trug Stiefel und Uniform, wenn er uns den goldenen Frauenschuh als Moosgewächs erklärte. Und das Edelweiß. Das Edelweiß war mehr als eine Pflanze, es war eine Mode. Alle trugen Abzeichen und Anstecker mit Flugzeug- und Panzertypen, Waffengattungen, Edelweiß und Enzian als Talisman. Ich sammelte Abzeichen, tauschte sie und lernte die Rangordnungen auswendig. Die liebsten waren mir der Unter- und Obergefreite. Ich glaubte, Gefreite sind Freier, Unter- und Oberliebhaber.

Denn bei uns zu Hause war der Obergefreite Dietrich aus dem Reich einquartiert. Meine Mutter machte Sonnenbad auf dem Schuppendach, und der Dietrich betrachtete sie mit dem Fernglas aus der Dachluke. Und mein Vater beobachtete ihn von der Veranda, zerrte ihn in den Hof und zerschlug sein Fernglas mit dem Hammer auf dem Hofpflaster neben dem Schuppen. Meine Mutter zog mit einem Säckchen Kleider unterm Arm für zwei Tage zu meiner Fini-Tante. Schon eine Woche vorher hatte der Dietrich meiner Mutter zum Geburtstag zwei Mokkatassen geschenkt. Es war meine Schuld, ich hatte ihm gesagt, dass sie Mokkatassen sammelt, und war mit ihm ins Porzellangeschäft gegangen. Dort habe ich dem Dietrich zwei Tässchen empfohlen, die meiner Mutter ganz bestimmt gefallen würden. Sie waren blassrosa wie feinster Knorpel, hatten einen Silberrand und einen Silbertropfen oben am Henkel.

Mein zweitliebstes Abzeichen war aus Bakelit, ein Edelweiß mit Phosphor, das in der Nacht leuchtete wie der Wecker.

Der Naturkundelehrer ging in den Krieg und kam nicht wieder. Der Lateinlehrer kam aus dem Krieg in den Fronturlaub und schaute bei uns in der Schule vorbei. Er setzte sich ans Katheder und hielt eine Lateinstunde. Sie war schnell zu Ende und ganz anders, als er dachte. Ein Schüler, der schon oft mit Hagebutten dekoriert worden war, sagte gleich zu Beginn: Herr Lehrer, erzählen Sie, wie ist es an der Front. Der Lehrer biss sich auf die Lippen und sagte: Nicht wie ihr glaubt. Und dann wurde er so starr im Gesicht und zittrig an den Händen, wie wir ihn gar nicht kannten. Nicht wie ihr glaubt, wiederholte er. Und dann legte er den Kopf auf den Tisch, ließ die Arme wie eine Fetzenpuppe am Stuhl herunterhängen und weinte.

Das Russendorf ist klein. Wenn man betteln geht, hofft man, dass man keinen anderen Bettler aus dem Lager trifft. Alle betteln mit Kohle. Wenn man ein echter Bettler ist, versteckt man seine Hände. Man trägt sein Stück Kohle im Fetzen wie ein schlafendes Kind auf dem Arm. Man klopft an eine Tür, und wenn sie aufgeht, lupft man den Fetzen und zeigt, was man hat. Ab Mai und bis im September stehen die Aussichten mit einem Stück Kohle nicht gut. Aber man hat nur Kohle.

Ich sah Petunien in einem Hausgarten, eine ganze Vitrine voller blassrosa Tässchen mit Silberrand. Im Weitergehen schloss ich die Augen und sagte MOKKATASSE und zählte die Buchstaben im Kopf: zehn. Und dann zählte ich zehn Schritte, danach zwanzig für beide Tassen. Wo ich stehenblieb, war aber kein Haus. Ich zählte bis einhundert für alle zehn Mokkatassen, die meine Mutter zu Hause in der Vitrine stehen hatte, und war drei Häuser weiter gekommen. Im Garten waren keine Petunien. Ich klopfte an die erste Tür.

Vom Fahren

Fahren war immer ein Glück.

Erstens: Solang du fährst, bist du noch nicht angekommen. Solang du nicht angekommen bist, musst du noch nicht arbeiten. Fahren ist Schonzeit.

Zweitens: Wenn du fährst, kommst du in eine Gegend, die sich überhaupt nicht um dich schert. Von einem Baum kann man nicht angeschrien und nicht verprügelt werden. Unter einem Baum schon, aber er kann nichts dafür.

Der einzige Anhaltspunkt, den wir bei der Ankunft im Lager hatten, war NOWO-GORLOWKA. Das konnte ein Name für das Lager sein oder für eine Stadt, auch für die ganze Umgebung. Der Name der Fabrik konnte es nicht sein, denn die hieß KOKSOCHIM-SAWOD. Und im Lagerhof neben dem Wasserhahn lag ein gusseiserner Kanaldeckel mit kyrillischen Buchstaben. Mit meinem Schulgriechisch reimte ich mir DNJEPROPETROWSK zusammen, und das konnte eine nahe Stadt oder bloß eine Gießerei am anderen Ende Russlands sein. Wenn man aus dem Lager herauskam, sah man statt Buchstaben die weite Steppe und bewohnte Orte in der Steppe. Auch deshalb war das Fahren ein Glück.

Die Transportleute wurden jeden Morgen in der Garage hinterm Lager auf Autos verteilt, meistens zu zweit. Karli Halmen und ich kamen zu einem Viertonner-LANCIA, ein Modell aus den dreißiger Jahren. Wir kannten alle fünf Autos aus der Garage, ihre Vor- und Nachteile. Der Lancia war gut, nicht so hoch und ganz aus Blech, kein bisschen Holz. Schlechter war der Fünftonner-MAN, dessen Räder einem bis zur Brust gingen. Und zu dem besseren Lancia gehörte auch der Schofför Kobelian mit dem schiefen Mund. Er war gutmütig.

Wenn Kobelian KIRPITSCH sagte, verstanden wir, heute holen wir rote Brennziegel und fahren durch die randlose Steppe. Wenn es in der Nacht geregnet hatte, spiegelten sich die ausgebrannten Autowracks und der Panzerschrott in den Mulden. Die Erdhunde flohen vor den Rädern. Karli Halmen saß bei Kobelian in der Kabine. Ich stand lieber oben auf der Ladefläche und hielt mich am Kabinendach fest. Von weitem sah man eine siebenstöckige Wohnkaserne aus roten Brennziegeln mit leeren Fensterlöchern ohne Dach. Eine Halbruine, ganz allein in der Gegend, aber hochmodern. Vielleicht war es der allererste Wohnblock einer Neubausiedlung, die von einem Tag auf den andern gestoppt wurde. Vielleicht kam vor dem Dach der Krieg.

Die Landstraße war bucklig, der Lancia schepperte an den verstreuten Höfen vorbei. In manchen wuchsen hüfthohe Brennesseln, und darin standen Bettgestelle aus Eisen, auf denen weiße Hühner saßen, mager wie Wolkenfetzen. Die Brennesseln wachsen nur dort, wo Menschen wohnen, hatte meine Großmutter gesagt, und die Kletten nur dort, wo es Schafe gibt.