Ich sah nie Menschen in den Höfen. Ich wollte Leute sehen, die nicht im Lager leben, die ein Zuhause haben, einen Zaun, einen Hof, ein Zimmer mit einem Teppich, vielleicht sogar einen Teppichklopfer. Wo Teppiche geklopft werden, dachte ich, kann man dem Frieden trauen, dort ist das Leben zivil, dort lässt man die Leute in Frieden.
Bei der allerersten Fahrt mit Kobelian hatte ich in einem Hof eine Teppichstange gesehen. Sie hatte eine Rolle, auf der man den Teppich beim Klopfen hin- und herziehen konnte. Und neben der Teppichstange stand eine große, weiße Wasserkanne aus Emaille. Wie ein Schwan war sie mit ihrem Schnabel, schlanken Hals und schweren Bauch. So schön, dass ich auf jeder Fahrt sogar im leeren Wind mitten in der Steppe eine Teppichstange suchte. Nie wieder sah ich eine Teppichstange oder einen Schwan.
Hinter den Vororthöfen begann eine kleine Stadt aus ockergelben Häusern mit zerbröckeltem Stuck und rostigen Blechdächern. Zwischen den Asphaltresten versteckten sich Straßenbahnschienen. Auf den Schienen zogen ab und zu Pferde zweirädrige Karren aus der Brotfabrik. Alle waren mit einem weißen Leintuch zugedeckt, wie der Handkarren im Lager. Aber die halbverhungerten Pferde gaben mir zu denken, ob unter den Leintüchern Brot liegt, und nicht verhungerte Tote.
Kobelian sagte: Die Stadt heißt Nowo-Gorlowka. Heißt die Stadt wie das Lager, fragte ich. Er sagte: Nein, das Lager heißt wie die Stadt. Es gab nirgends Ortsschilder. Wer fuhr und ankam, also Kobelian und der Lancia, kannte den Namen des Ortes. Und wer ortsfremd war, fragte nach ihm wie Karli Halmen und ich. Und wer niemanden zum Fragen hatte, fand nicht hierher und hatte hier auch nichts zu suchen.
Die Brennziegel holten wir hinter der Stadt. Das Aufladen dauert, wenn man zu zweit ist und mit dem Lancia ganz nah an die Ziegel heranfahren kann, anderthalb Stunden. Man nimmt vier Steine auf einmal, trägt sie aneinandergepresst wie eine Ziehharmonika. Drei sind zu wenig und fünf schon zu viel. Tragen könnte man fünf, aber dann rutscht der mittlere weg. Man bräuchte eine dritte Hand, um ihn zu halten. Die Ziegel schichtet man ohne Fugen auf die ganze Ladefläche nebeneinander, drei bis vier Schichten hoch. Brennziegel haben eine helle Resonanz, jeder klingt ein wenig anders. Der rote Staub ist immer gleich und setzt sich auf die Kleider, aber trocken. Ziegelstaub spinnt dich nicht so ein wie Zementstaub und sitzt nicht fettig wie der Kohlestaub. Beim Ziegelstaub dachte ich an süßen roten Paprika, obwohl er nicht riecht.
Auf der Rückfahrt schepperte der Lancia nie, er war viel zu schwer. Wir fuhren wieder durch die kleine Stadt Nowo-Gorlowka über die Straßenbahnschiene, wieder an den Vororthöfen vorbei, auf der Landstraße unter den Wolkenfetzen der Steppe bis zum Lager. Und dann am Lager vorbei zur Baustelle.
Das Abladen ging schneller als das Aufladen. Man musste die Ziegel zwar schichten, aber nicht so genau, denn sie wurden oft schon am nächsten Tag aufs Gerüst zu den Maurern geschleppt.
Mit dem Hin- und Rückweg, Aufladen und Abladen schaffte man zwei Transporte pro Tag. Dann war es Abend. Manchmal fuhr Kobelian noch einmal los, ohne etwas zu sagen. Karli und ich wussten, dass es eine Privatfuhre ist. Wir luden nur eine Schicht Brennsteine auf die halbe Ladefläche. Und auf dem Rückweg bogen wir hinter der siebenstöckigen Wohnruine ab, in eine Senke. Dort wuchsen Pappelreihen um die Häuser. Die Wolken waren um diese Zeit auch ziegelrot vom Abend. Zwischen dem Zaun und dem Holzschuppen fuhren wir in Kobelians Hof. Das Auto hielt mit einem Ruck, und ich stand bis zu den Hüften in einem kahlen, wahrscheinlich ausgedorrten Obstbaum, voll mit schrumpeligen Kugeln aus dem letzten oder vorletzten Sommer. Karli kletterte zu mir hoch. Dieses letzte Tageslicht hängte uns Obst vors Gesicht, und Kobelian ließ uns vor dem Abladen pflücken.
Die Kugeln waren holztrocken, man musste lutschen und saugen, bis sie nach Weichseln schmeckten. Wenn man gut kaute, wurde der Kern auf der Zunge ganz glatt und heiß. Diese Nachtweichseln waren ein Glück, aber sie machten den Hunger noch größer.
Auf der Heimfahrt war die Nacht aus Tinte. Spät ins Lager zu kommen, war gut. Der Appell war vorbei, das Abendessen hatte längst begonnen. Im Kessel war die dünne Suppe von oben schon an andere verteilt. Die Chance auf Dickes von unten war größer.
Aber zu spät ins Lager zu kommen, war schlimm. Dann war die Suppe alle. Dann hatte man nichts außer dieser großen leeren Nacht mit den Läusen.
Von strengen Menschen
Bea Zakel hat sich am Brunnen die Hände gewaschen und kommt jetzt den Korso entlang. Sie setzt sich zu mir auf die Bank mit der Lehne. Ihre Augen gleiten in den schiefen Blick ab und haben etwas vom Schielen. Sie schielt nicht, sie baut in ihre Augendrehung diese gewisse Verzögerung ein, weil sie weiß, das macht sie apart. So apart, dass ich befangen bin. Sie fängt an zu reden, einfach an zu reden. Sie spricht so schnell wie Tur Prikulitsch, nur nicht so kapriziös. Ihren abgleitenden Blick dreht sie hinüber zur Fabrik, schaut der Kühlturmwolke nach und erzählt von den Dreiländerbergen, wo die Ukraine, Bessarabien und die Slowakei zusammenkommen.
Die Berge von zu Hause zählt sie langsamer auf, die Niedere Tatra, die Beskiden, die in die Waldkarpaten münden, am Oberlauf der Theiß. Mein Dorf heißt Lugi, sagt sie, ein verstecktes armes Dorf bei Kaschau. Dort schauen uns die Berge von oben durch den Kopf, bis wir sterben. Wer dort bleibt, wird tiefsinnig, viele ziehen weg. Darum bin auch ich nach Prag, aufs Konservatorium.
Der große Kühlturm ist eine Matrone, er trägt seine dunkle Holzverschalung auf den Hüften wie ein Korsett. So eingezwängt, steigen der Matrone Tag und Nacht weiße Wolken aus dem Maul. Und die ziehen auch weg wie die Leute aus Bea Zakels Bergen.
Ich erzähle Bea von den Bergen aus Siebenbürgen, immer noch Karpaten, sage ich. Nur bei uns haben die Berge runde tiefe Seen. Man sagt, es sind Meeraugen, so tief, dass ihr Grund mit dem Schwarzen Meer in Verbindung steht. Man ist mit den Fußsohlen auf dem Berg und mit den Augen am Meer, wenn man in einen Bergsee schaut. Mein Großvater sagt, die Karpaten tragen das Schwarze Meer unterirdisch auf dem Arm.
Dann redet Bea von Artur Prikulitsch, dass er zu ihrer Kindheit gehört. Dass er aus demselben Dorf kommt und in derselben Straße wohnte und mit ihr sogar in derselben Schulbank saß. Beim Spielen mit Tur musste sie das Pferd sein, und Tur hat kutschiert. Und sie ist hingefallen und hat sich den Fuß gebrochen, aber das hat sich erst später herausgestellt. Tur hat sie mit der Peitsche angetrieben und behauptet, sie würde sich verstellen, weil sie nicht mehr das Pferd sein will. Die Straße war abschüssig, sagt sie, wenn man mit Tur gespielt hat, war er immer ein Sadist. Und ich erzähle vom Tausendfüßlerspiel. Die Kinder werden eingeteilt in zwei Tausendfüßler. Einer muss den anderen über eine Kreidelinie in sein Revier ziehen, weil er ihn fressen will. In jedem der zwei Tausendfüßler müssen sich die Kinder um den Bauch fassen und mit aller Macht ziehen. Man wird fast zerrissen, ich hatte Quetschungen an den Hüften und eine ausgerenkte Schulter.
Ich bin kein Pferd, und du bist kein Tausendfüßler, sagt Bea.
Wenn man das ist, was man spielt, wird man dafür bestraft wie nach einem Gesetz. Und aus einem Gesetz kommt man nicht heraus, auch wenn man umzieht nach Prag. Oder ins Lager, sage ich. Ja, weil Tur mitkommt, sagt Bea. Er ging auch studieren, er wollte Missionar werden und wurde es nicht. Aber in Prag ist er geblieben, er hat auf Handel umgesattelt. Weiß du, die Gesetze des kleinen Dorfes und selbst die Gesetze von Prag sind streng, sagt Bea, darum kommt man aus ihnen nicht heraus, sie sind gemacht von strengen Menschen.