Dann baut Bea wieder die gewisse Verzögerung in den abgleitenden Blick und sagt:
Ich liebe strenge Menschen.
Einen, denke ich und muss mich zügeln, weil sie von dieser Strenge lebt und von ihrem einen strengen Menschen den guten Platz in der Wäschekammer hat, im Unterschied zu mir. Sie beklagt sich über Tur Prikulitsch, sie will zu uns gehören, aber so leben wie er. Wenn sie schnell spricht, ist sie manchmal nah dran, den Unterschied zwischen uns und ihr zu verleugnen. Doch kurz bevor das geschieht, schlüpft sie in ihre Sicherheit zurück. Kann sein, dass ihre Augen wegen dieser Sicherheit im abgleitenden Blick so länglich werden. Kann sein, dass ihr Vorteil sie beschäftigt, wenn sie mit mir spricht. Und dass sie so viel redet, weil sie außer ihrem strengen Menschen noch ein bisschen Freiheit haben will, von der er nichts weiß. Kann sein, dass sie mich aus der Reserve lockt, dass sie ihm alles beichtet, was sie mit uns spricht.
Bea, sage ich, das Lied von meiner Kindheit geht so:
Sonne hoch im Schleier,
gelber Mais,
keine Zeit
Denn der stärkste Geruch meiner Kindheit ist der faulige Gestank von keimenden Maiskörnern. Wir sind in die großen Ferien auf die Wench gefahren und acht Wochen geblieben. Wir sind aus den großen Ferien wiedergekommen. Auf dem Sandhaufen im Hof hatte der Mais gekeimt. Wenn ich ihn aus dem Sand herauszog, weiße Wurzelfäden und seitlich drangehängt das stinkiggelbe alte Korn.
Bea wiederholt: Gelber Mais, keine Zeit. Dann lutscht sie an ihrem Finger und sagt: Gut, dass man wächst.
Bea Zakel ist einen halben Kopf größer als ich. Ihre Zöpfe sind um den Kopf gerollt, ein armdicker Seidenstrick. Vielleicht sieht ihr Kopf nicht nur so stolz aus, weil sie in der Wäschkammer sitzt, sondern weil sie diese schweren Haare tragen muss. Wahrscheinlich hat sie diese schweren Haare schon als Kind gehabt, damit ihr in dem versteckten armen Dorf die Berge nicht von oben durch den Kopf schauen, bis sie stirbt.
Aber hier im Lager stirbt sie nicht. Tur Prikulitsch wird dafür sorgen.
Eintropfenzuvielglück für Irma Pfeifer
Schon Ende Oktober schneite es Eisnägel in den Regen. Der Begleitposten und der Vorprüfer teilten uns die Norm zu und gingen gleich wieder ins Lager, in ihre warmen Dienststuben. Auf der Baustelle begann ein stiller Tag ohne Angst vor dem Geschrei der Kommandos.
Doch mitten in diesen stillen Tag hat Irma Pfeifer geschrien. Vielleicht HILFEHILFE oder ICHWILLNICHTMEHR, man hat es nicht deutlich hören können. Wir sind mit Schaufeln und Holzlatten zur Mörtelgrube gerannt, nicht schnell genug, der Bauleiter stand schon da. Wir mussten alles aus den Händen fallenlassen. Ruki na sad, Hände auf den Rücken — mit einer erhobenen Schaufel hat er uns gezwungen, tatenlos in den Mörtel zu schauen.
Die Irma Pfeifer lag mit dem Gesicht nach unten, der Mörtel machte Blasen. Erst schluckte der Mörtel ihre Arme, dann schob sich die graue Decke bis zu den Kniekehlen hoch. Ewig lang, ein paar Sekunden, wartete der Mörtel mit gekräuselten Rüschen. Dann schwappte er mit einem Mal bis zur Hüfte. Zwischen Kopf und Mütze wackelte die Brühe. Der Kopf sank und die Mütze hob sich. Mit den gespreizten Ohrenklappen trieb die Mütze langsam an den Rand wie eine aufgeplusterte Taube. Der Hinterkopf, kahlgeschoren mit den verkrusteten Läusebissen, hielt sich noch oben wie eine halbe Zuckermelone. Als auch der Kopf geschluckt war, nur noch der Buckel herausschaute, sagte der Bauleiter: Schalko, otschin Schalko.
Dann trieb er uns mit der Schaufel an den Baustellenrand zu den Kalkfrauen, alle auf einen Haufen, und schrie: Wnimanje liudej. Der Akkordeonspieler Konrad Fonn musste übersetzten: Achtung Leute, wenn ein Saboteur den Tod will, soll er ihn haben. Sie ist hineingesprungen. Die Maurer haben es vom Gerüst oben gesehen.
Wir mussten uns aufstellen und in den Lagerhof marschieren. Es gab an diesem frühen Vormittag Appell. Es schneite immer noch Eisnägel in den Regen, und wir standen von außen und von innen monströs still in unserem Entsetzen. Schischtwanjonow kam aus seiner Dienststube gerannt und brüllte. Um seinen Mund schäumte der Speichel wie bei einem überhitzten Pferd. Er warf seine Lederhandschuhe zwischen uns. Wo sie hinfielen, musste sich einer bücken und ihm den Handschuh jedesmal wieder nach vorne bringen. Wieder und wieder. Dann überließ er uns Tur Prikulitsch. Der trug einen Wachstuchmantel und Gummistiefel. Er ließ durchzählen, vortreten, zurücktreten, durchzählen, vortreten, zurücktreten bis in die Abendstunden.
Wann die Irma Pfeifer aus der Mörtelgrube geholt und wo sie verscharrt wurde, weiß niemand. Am nächsten Morgen schien die Sonne kalt und blank. Es war frischer Mörtel in der Grube, es war wie immer. Niemand hat den Vortag erwähnt. Manch einer hat bestimmt an die Irma Pfeifer gedacht und an ihre gute Mütze und den guten Watteanzug, weil die Irma Pfeifer wahrscheinlich angezogen unter die Erde kam und Tote keine Kleider brauchen, wenn Lebende erfrieren.
Die Irma Pfeifer wollte den Weg abkürzen und konnte mit dem Zementsack vor dem Bauch nicht sehen, wo ihre Füße hintreten. Der Sack war vom Eisregen vollgesoffen und ist zuallererst untergegangen. Darum konnten wir keinen Sack mehr sehen, als wir an die Mörtelgrube kamen. Das meinte der Akkordeonspieler Konrad Fonn. Meinen kann man allerhand. Wissen kann man es nicht.
Schwarzpappeln
Es war die Nacht vom 31. Dezember zum 1. Januar, die Neujahrsnacht im zweiten Jahr. Wir wurden um Halbnacht vom Lautsprecher auf den Appellplatz befohlen. Flankiert von acht Wachsoldaten mit ihren Gewehren und Hunden trieb man uns die Lagerstraße entlang. Ein Lastauto fuhr hinterher. Im hohen Schnee an der Rückseite der Fabrik, wo das Brachland anfing, mussten wir uns vor dem gemauerten Zaun in Reihen aufstellen und warten. Wir dachten, das ist die Nacht der Erschießung.
Ich drängte mich in die vordere Reihe, dass ich unter den ersten bin, nicht vorher noch Leichen aufladen muss — denn das Lastauto wartete am Straßenrand. Schischtwanjonow und Tur Prikulitsch waren in die Kabine gekrochen, und der Motor lief, damit sie nicht frieren. Die Wachsoldaten gingen auf und ab. Die Hunde standen beisammen, der Frost drückte ihre Augen zu. Hie und da hoben sie die Pfoten, um nicht anzufrieren.
Da standen wir, vergreist im Gesicht, die Augenbrauen aus Rauhreif. Manchen Frauen bibberten die Lippen nicht nur vom Frieren, sie murmelten Gebete. Ich sagte mir, jetzt hat alles ein Ende. Der Abschied meiner Großmutter war: Ich weiß, du kommst wieder. Das war zwar auch in der Mitte der Nacht, aber in der Mitte der Welt. Jetzt haben sie zu Hause Silvester gefeiert, um Mitternacht vielleicht auf mich angestoßen, damit ich lebe. Hoffentlich haben sie die ersten Stunden im neuen Jahr an mich gedacht und sich dann ins warme Bett gelegt. Auf dem Nachtkästchen der Großmutter liegt schon ihr Ehering, den sie jeden Abend abstreift, weil er drückt. Und ich stehe und warte auf die Erschießung. Ich sah uns alle in einer riesengroßen Schachtel stehen. Ihr Himmeldeckel war schwarzlackiert von der Nacht und geschmückt mit scharf geschliffenen Sternen. Und der Boden der Schachtel war knietief ausgelegt mit Watte, damit wir ins Weiche fallen. Und die Wände der Schachtel waren drapiert mit steifem Eisbrokat, seidigem Fransengewirr und Spitzenstoff ohne Ende. Auf der Lagermauer drüben, zwischen den Wachtürmen, war der Schnee ein Katafalk. Darauf stand ein turmhohes Etagenbett in den Himmel, ein Etagensarg, in dem wir alle übereinander aufgebahrt Platz hatten wie in den Bettgestellen der Baracken. Über der obersten Etage lag der schwarzlackierte Deckel. In den Wachtürmen am Kopf- und Fußende des Katafalks hielten zwei Schwarzgekleidete aus der Ehrengarde Totenwache. Am Kopfende in Richtung Lagertor schimmerte das Bewachungslicht des Lagerhofs wie Kerzenleuchter. Am dunkleren Fußende stand die Krone des schneebedeckten Maulbeerbaums als prunkvolles Blumengebinde mit allen Namen auf zahllosen Papierschleifen. Schnee dämpft, dachte ich, das Schießen wird man kaum hören. Unsere Angehörigen schlafen angesäuselt, arglos und silvestermüd in der Mitte der Welt. Vielleicht träumen sie von unserem verwunschenen Begräbnis im neuen Jahr.