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Das schneeweiße Taschentuch aus feinstem Batist war alt, ein gutes Stück aus der Zarenzeit. Es hatte einen handgestickten Ajour-Rand, Stäbchen aus Seidenzwirn. Die Lücken zwischen den Stäbchen waren akkurat genäht und in den Ecken kleine Seidenrosetten. So etwas Schönes hatte ich lang nicht mehr gesehen. Die Schönheit der normalen Gebrauchsgegenstände war zu Hause nicht der Rede wert. Im Lager ist es gut, sie zu vergessen. In dem Taschentuch erwischte sie mich. Diese Schönheit tat mir weh. Ob dieser Sohn der alten Russin, der er und ich in einem war, je wieder nach Hause kommt. Ich fing an zu singen, um die Gedanken abzustellen. Ich sang für uns beide den Viehwaggonblues:

Im Walde blüht der Seidelbast

Im Graben liegt noch Schnee

Und das du mir geschrieben hast

Das Brieflein tut mir weh

Der Himmel lief, Wolken mit ihren vollgestopften Kissen. Dann schaute der frühe Mond mit dem Gesicht meiner Mutter. Die Wolken schoben ihr ein Kissen unters Kinn und ein Kissen hinter die rechte Wange. Und durch die linke Wange zog das Kissen wieder hinaus. Und ich fragte den Mond: Ist meine Mutter schon so schwach. Ist sie krank. Gibt es unser Haus noch. Wohnt sie noch dort, oder ist sie auch in einem Lager. Lebt sie überhaupt noch. Weiß sie, dass ich noch lebe, oder weint sie schon um einen Toten, wenn sie an mich denkt.

Schon den zweiten Winter war ich im Lager, wir durften keine Post nach Hause schreiben, kein Lebenszeichen. Im Russendorf standen nackte Birken, darunter die Schneedächer wie krumme Betten in Luftbaracken. In dieser frühen Dämmerung war die Haut der Birken anders bleich als am Tag und anders weiß als Schnee. Ich sah den Wind biegsam durch die Äste schwimmen. Auf dem Trampelweg neben den geflochtenen Weidenzäunen kam mir ein holzbraunes Hündchen entgegen. Es hatte einen dreieckigen Kopf, hohe Beine, stracksdünn wie Trommelstöcke. Weißer Atem flog ihm aus dem Maul, als würde es mein Taschentuch essen und dabei mit den Beinen trommeln. Das Hündchen lief vorbei, als wäre ich nur der Schatten vom Zaun. Es hatte recht, ich war auf diesem Heimweg ins Lager nichts weiter als ein gewöhnlicher russischer Gegenstand in der Dämmerung.

Das weiße Taschentuch aus Batist hatte noch niemand benutzt. Auch ich habe es nie benutzt, aber wie eine Art Reliquie von einer Mutter und einem Sohn bis zum letzten Tag im Koffer aufbewahrt. Und schließlich auch nach Hause mitgenommen.

Im Lager hatte so ein Taschentuch nichts zu suchen. Ich hätte es all die Jahre auf dem Basar für etwas Essbares tauschen können. Ich hätte Zucker oder Salz dafür bekommen, vielleicht sogar Hirse. Die Versuchung war da, der Hunger blind genug. Was mich abhielt: Ich glaubte, das Taschentuch ist mein Schicksal. Wenn man sein Schicksal aus der Hand gibt, ist man verloren. Ich war mir sicher, der Abschiedssatz meiner Großmutter ICH WEISS DU KOMMST WIEDER hat sich in ein Taschentuch verwandelt. Ich schäme mich nicht, wenn ich sage, das Taschentuch war der einzige Mensch, der sich im Lager um mich kümmerte. Ich bin mir sicher, auch heute noch.

Manchmal kriegen die Dinge eine Zartheit, eine monströse, die man von ihnen nicht erwartet.

Am Kopfende hinterm Kissen ist der Koffer und unterm Kissen im Brottuch das vom Mund abgesparte, unschätzbar wertvolle Brot. Und wo auf dem Kissen das Ohr liegt, piepst es eines Morgens. Und man hebt den Kopf und wundert sich, zwischen Brottuch und Kissen zappelt ein hellrosa Knäuel, groß wie das eigene Ohr. Sechs augenlose Mäuse, jede kleiner als ein Kinderfinger. Und ihre Haut wie Seidenstrümpfe, die zucken, weil sie aus Fleisch sind. Mäuse aus dem Nichts geboren, ein Geschenk ohne Grund. Da war ich plötzlich stolz auf sie, als ob auch sie stolz auf mich wären. Stolz, weil mein Ohr Kinder bekommen hatte, weil sie trotz der 68 Betten in der Baracke bei mir geboren wurden und ausgerechnet mich zum Vater haben wollten. Sie lagen alleine da, eine Mutter habe ich nie gesehen. Ich genierte mich vor ihnen, weil sie mir so maßlos trauten. Ich spürte sofort, dass ich sie liebte und dass ich sie loswerden muss, und zwar sofort, bevor sie Brot fressen und bevor die anderen aufwachen und etwas merken.

Und ich hob das Knäuel Mäuse aufs Brottuch, hielt die Finger wie ein Nest, um ihnen ja nicht wehzutun. Ich schlich aus der Baracke, trug das Nest über den Hof. Meine Füße zittrig vor Eile, dass mich ja kein Wachsoldat sieht und kein Wachhund riecht. Doch meine Augen wichen nicht vom Tuch, dass mir beim Gehen ja keine Maus herunterfällt. Dann stand ich in der Latrine und schüttelte das Tuch ins Loch. Die Mäuse plumpsten in die Grube. Kein Pieps. Ich atmete nur einmal tief, geschafft.

Als ich neun Jahre alt war, fand ich auf einem alten Teppich im hintersten Winkel der Waschküche ein neugeborenes graugrünes Kätzchen mit verklebten Augen. Ich nahm es in die Hand und streichelte ihm den Bauch. Es fauchte und biss mir in den kleinen Finger, ließ nicht los. Da sah ich Blut. Da drückte ich mit Daumen und Zeigefinger — ich glaube, ich habe ganz zugedrückt, und zwar am Hals. Mir klopfte das Herz wie nach einem Zweikampf. Das Kätzchen, weil es tot war, hatte mich beim Töten ertappt. Dass es keine Absicht war, machte es nur schlimmer. Monströse Zärtlichkeit verstrickt sich anders in Schuld als absichtliche Grausamkeit. Tiefer. Und länger.

Was das Kätzchen mit den Mäusen gemeinsam hat:

Kein Pieps.

Und was das Kätzchen von den Mäusen unterscheidet:

Bei den Mäusen war es Absicht und Mitleid. Bei dem Kätzchen die Verbitterung, dass man streicheln will und gebissen wird. Das ist das Eine. Zugzwang das andere. Wenn man das Drücken anfängt, kann man nicht zurück.

Von der Herzschaufel

Es gibt viele Schaufeln. Aber die Herzschaufel ist mir die liebste. Nur ihr habe ich einen Namen gegeben. Mit der Herzschaufel kann man nur Kohle, und nur lockere Kohle, aufladen oder abladen.

Die Herzschaufel hat ein Schaufelblatt, das ist so groß wie zwei Köpfe nebeneinander. Es ist herzförmig und tief gewölbt, an die fünf Kilo Kohle oder der ganze Hintern des Hungerengels hätten darin Platz. Das Schaufelblatt hat einen langen Hals mit einer Schweißnaht. Im Vergleich zu diesem großen Blatt hat die Herzschaufel einen kurzen Stiel. Er endet in einem Querholz.

Mit der einen Hand packt man den Hals und mit der anderen das Querholz oben am Stiel. Aber ich würde sagen, unten am Stiel. Denn bei mir ist die Herzschaufel oben, und der Stiel ist die Nebensache, also seitlich oder unten. Also ich packe das Herzblatt oben am Hals und das Querholz unten am Stiel. Ich halte die Balance, die Herzschaufel wird zur Schaukel in meiner Hand, wie die Atemschaukel in der Brust.

Die Herzschaufel muss eingearbeitet werden, bis das Schaufelblatt ganz blank ist, bis die Schweißnaht einem wie eine Narbe in der Hand liegt — und die ganze Schaufel wie ein zweites äußeres Gleichgewicht.

Kohleabladen mit der Herzschaufel ist nämlich anders als Brennziegelaufladen. Beim Ziegelaufladen hat man nur seine Hände, es geht um die Logistik. Aber beim Kohleabladen macht das Werkzeug, die Herzschaufel, die Logistik zur Artistik. Kohleabladen das ist vornehmster Sport, wie kaum das Reiten, kaum das Kunstspringen, kaum das elegante Tennis. Wie Eiskunstlauf. Ich und die Schaufel sind ein Paarlauf, könnte man sagen. Wer einmal seine Herzschaufel gehabt hat, der wird von ihr mitgerissen.

Das Kohleabladen beginnt so: Ist die Bordwand des Autos polternd nach unten gekippt, stellst du dich links oben hin und stichst die Kante schief ab, bis auf den Kastenboden, wobei du mit dem Fuß wie auf einen Spaten aufs Herzblatt trittst. Hast du dir am Rand des Lastwagens zwei Fuß Platz geschafft, so dass du jetzt auf dem Holzboden stehst, fängst du an mit dem Schaufeln. In einem wiegenden Schwungrhythmus spielen alle Muskeln mit. Du packst mit der linken Hand das Querholz und mit der rechten den langen Hals, dass die Finger auf den Knötchen der Schweißnaht liegen. Dann von links oben die Kohle abstechen und sie in einem Bogen abwärtsziehen bis zum Rand und sie im selben Schwung, über den Rand der Bordkante hinaus, in die Tiefe stoßen. Das heißt, die rechte Hand nun am Holzstiel hinaufgleiten lassen, fast bis zum Quergriff — wobei sich das Körpergewicht auf die rechte Wade verlagert und bis in die Zehenspitzen läuft. Dann die Schaufel leer zurück, links hinauf. Und wieder Schwung und dann die Schaufel wieder vollgeladen rechts hinunter.