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Wenn der Großteil der Kohle abgeladen und der Abstand zur Bordkante zu groß geworden ist, kann man nicht mehr mit einem Bogenschwung arbeiten. Jetzt braucht es die Fechtstellung: Rechter Fuß graziös nach vorn, linker Fuß als Stützachse stabil nach hinten, Zehen leicht auswärts gedreht. Dann die linke Hand am Querholz, die rechte Hand diesmal nicht tief am Hals, sondern ganz locker ständig am Stiel auf und ab gleiten lassen und die Last ausbalancieren. Nun stichst du ein, hilfst mit dem rechten Knie nach, ziehst es zurück und verlagerst das Gewicht durch eine geschickte Wendung auf den linken Fuß, so dass kein Stückchen Kohle vom Herzblatt herunterfällt, und machst eine weitere Drehung, also einen Schritt mit dem rechten Fuß nach hinten, wobei sich Oberkörper und Gesicht mitdrehen. Dann verlagerst du das Gewicht auf einen dritten, neuen Fußpunkt rechts hinten, der linke Fuß steht jetzt graziös, mit leicht angehobener Ferse wie beim Tanzen, nur noch der Außenrand des großen Zehs hat Bodenhaftung — und jetzt wirfst du die Kohle in weitem Schwung vom Herzblatt hinaus in die Wolken, so dass die Schaufel waagerecht in der Luft steht, also nur von der linken Hand am Querholz gehalten. Es ist schön wie ein Tango, wechselnd spitzwinklig bei gleichbleibendem Takt. Und ab der Fechtstellung, wenn die Kohle weiter wegfliegen muss, wird es fließend abgelöst von Walzeranwandlungen, wobei die Gewichtsverlagerung im großen Dreieck geschieht, die Körperneigung ist bis 45 Grad, und in der Wurfdistanz fliegt die Kohle wie ein Vogelschwarm. Und der Hungerengel fliegt mit. Er ist in der Kohle, in der Herzschaufel, in den Gelenken. Er weiß, nichts wärmt den ganzen Körper mehr als das Schaufeln, das am ganzen Körper zehrt. Er weiß aber auch, dass der Hunger fast die ganze Artistik frisst.

Wir waren beim Abladen immer zu zweit oder zu dritt. Den Hungerengel nicht mitgezählt, denn man war sich nicht sicher, ob es einen Hungerengel für uns alle gibt oder jeder seinen eigenen hat. Maßlos genähert hat er sich jedem. Er wusste, wo abgeladen wird, kann auch aufgeladen werden. Mathematisch weitergedacht wäre das Ende entsetzlich: Wenn jeder seinen eigenen Hungerengel hat, dann wird jedesmal, wenn einer stirbt, ein Hungerengel frei. Dann würde es später nur noch verlassene Hungerengel geben, verlassene Herzschaufeln, verlassene Kohle.

Vom Hungerengel

Immer ist der Hunger da.

Weil er da ist, kommt er, wann er will und wie er will.

Das kausale Prinzip ist das Machwerk des Hungerengels.

Wenn er kommt, dann kommt er stark.

Die Klarheit ist groß:

1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot.

Ich bräuchte die Herzschaufel nicht. Aber mein Hunger ist auf sie angewiesen. Ich wünschte, die Herzschaufel wäre mein Werkzeug. Aber sie ist mein Herr. Das Werkzeug bin ich. Sie herrscht, und ich unterwerfe mich. Und doch ist sie meine liebste Schaufel. Ich hab mich gezwungen, sie zu mögen. Ich bin unterwürfig, weil sie ein besserer Herr zu mir ist, wenn ich gefügig bin und sie nicht hasse. Ich hab ihr zu danken, denn wenn ich fürs Brot schaufle, bin ich abgelenkt vom Hunger. Weil der Hunger nicht vergeht, sorgt sie dafür, dass sich das Schaufeln vor den Hunger schiebt. Das Schaufeln ist an erster Stelle beim Schaufeln, sonst packt der Körper die Arbeit nicht.

Die Kohle wird weggeschaufelt, wird aber nie weniger. Sie kommt, zum Glück, jeden Tag aus Jasinowataja, so steht es auf den Waggons. Jeden Tag steigert sich der Kopf hinein ins Schaufeln. Der ganze Körper, vom Kopf aus gesteuert, ist das Werkzeug der Schaufel. Sonst nichts.

Schaufeln ist schwer. Schaufelnmüssen und nicht können ist das eine. Schaufelnwollen und nicht können ist die zweifache Verzweiflung, der Knick wie der Knicks vor derKohle. Ich habe keine Angst vor dem Schaufeln, sondern vor mir. Also davor, dass ich beim Schaufeln noch an etwas anderes denke, als dass ich schaufle. Das ist mir die erste Zeit manchmal passiert. Es zehrt an den Kräften, die man zum Schaufeln braucht. Die Herzschaufel bemerkt sofort, wenn ich nicht ganz bei ihr bin. Dann schnürt eine dünne Panik mir den Hals zu. In den Schläfen klopft der nackte Zweitakt. Er greift sich den Puls wie eine Meute Klaxons. Ich bin kurz vor dem Zusammenbruch, im süßen Gaumen schwillt mir das Zäpfchen. Und der Hungerengel hängt sich ganz in meinen Mund hinein, an mein Gaumensegel. Es ist seine Waage. Er setzt meine Augen auf, und die Herzschaufel wird schwindlig, die Kohle verschwimmt. Der Hungerengel stellt meine Wangen auf sein Kinn. Er lässt meinen Atem schaukeln. Die Atemschaukel ist ein Delirium und was für eins. Ich hebe den Blick, da oben stille Sommerwatte, die Stickerei der Wolken. Mein Hirn zuckt mit einer Nadelspitze am Himmel fixiert, besitzt nur noch diesen einen festen Punkt. Und der phantasiert vom Essen. Schon sehe ich die weißgedeckten Tische in der Luft, und der Schotter knirscht mir unter den Füßen. Und die Sonne scheint mir hell mitten durch die Zirbeldrüse. Der Hungerengel schaut auf seine Waage und sagt:

Du bist mir noch immer nicht leicht genug, wieso lässt du nicht locker.

Ich sage: Du betrügst mich mit meinem Fleisch. Es ist dir verfallen. Aber ich bin nicht mein Fleisch. Ich bin etwas anderes und lasse nicht locker. Von Wer bin ich kann nicht mehr die Rede sein, aber ich sag dir nicht, was ich bin. Was ich bin, betrügt deine Waage.

So war es oft im zweiten Winter im Lager. Ich komme am frühen Morgen todmüde aus der Nachtschicht. Ich habe jetzt frei, müsste schlafen und leg mich hin und kann nicht. In der Baracke sind alle 68 Betten leer, alle anderen sind in der Arbeit. Es zieht mich hinaus in den hofleeren Nachmittag. Der Wind wirft seinen dünnen Schnee, er knistert mir im Nacken. Offenen Hungers geht der Engel mit mir zum Abfallhaufen hinter die Kantine. Ich torkel ein Stück hinter ihm her, ich hänge schief an meinem Gaumensegel. Schritt für Schritt geh ich meinen Füßen hinterher, wenn es nicht seine sind. Der Hunger ist meine Richtung, wenn es nicht seine ist. Der Engel lässt mich vor. Er wird nicht schüchtern, er will nur nicht gesehen werden mit mir. Dann beuge ich den Rücken, wenn es nicht seiner ist. Meine Gier ist roh, meine Hände sind wild. Es sind meine Hände, Abfall fasst der Engel nicht an. Ich schiebe die Kartoffelschalen in den Mund und schließe beide Augen, so spüre ich sie besser, süß und glasig, die gefrorenen Kartoffelschalen.

Der Hungerengel sucht Spuren, die nicht zu löschen sind, und löscht Spuren, die nicht zu halten sind. Kartoffelfelder ziehen durch mein Hirn, die schiefliegenden Parzellen zwischen den Heuwiesen auf der Wench, Gebirgskartoffeln von zu Hause. Die ersten runden blassen Frühkartoffeln, die glasblauen krumm verzogenen Spätkartoffeln, die faustdicken, lederschaligen gelbsüßen Mehlkartoffeln, die schlanken, glatthäutig ovalen hartkochenden Rosenkartoffeln. Und wie sie in den Sommer blühen mit gelbweiß, rosagrau oder lila gewachsten Bündeln auf bittergrünem Kraut mit kantigen Stengeln.

Und wie schnell hab ich dann mit hochgezogener Lippe alle gefrorenen Kartoffelschalen gegessen. Eine Schale gleich hinter die andere in den Mund geschoben, ohne Lücke wie der Hunger. Ohne Unterlass, alle am Stück sind sie ein einziges langes Kartoffelschalenband.

Alle, alle, alle.

Und es kommt der Abend. Und alle kommen von der Arbeit heim. Und alle steigen in den Hunger. Er ist ein Bettgestell, wenn ein Hungriger den anderen Hungrigen zuschaut. Aber das täuscht, ich spüre an mir, der Hunger steigt in uns hinein. Wir sind das Gestell für den Hunger. Wir alle essen mit geschlossenen Augen. Wir füttern den Hunger die ganze Nacht. Wir mästen ihn hoch auf die Schaufel.