Ich esse einen kurzen Schlaf, dann wache ich auf und esse den nächsten kurzen Schlaf. Ein Traum ist wie der andere, es wird gegessen. Es gibt eine Gnade des Esszwangs im Traum, und die ist eine Qual. Ich esse Hochzeitssuppe und Brot, gefüllte Paprika und Brot, Baumtorte. Dann werde ich wach, schau ins kurzsichtige gelbe Dienstlicht der Baracke, schlaf wieder ein und esse Kohlrabisuppe und Brot, sauren Hasen und Brot, Erdbeereis im Silberbecher. Danach Nussnudeln und Offizierskipfel. Und dann Klausenburger Kraut und Brot, Rumtorte. Dann Kesselfleisch vom Schweinskopf mit Meerrettich und Brot. Zuletzt hätte ich noch Rehkeule mit Brot und Aprikosenkompott gehabt, aber der Lautsprecher plärrt mittenhinein, denn es ist Tag. Der Schlaf bleibt dünn, je mehr ich esse, und der Hunger wird nie müde.
Bei den ersten drei von uns, die am Hunger gestorben sind, wusste ich genau, wer sie sind und die Reihenfolge ihres Todes. Ich dachte ein paar lange Tage an jeden der drei. Aber die Zahl Drei bleibt niemals die erste Zahl Drei. Jede Zahl wird abgeleitet. Und abgehärtet. Wenn man selbst eine Knochenhaut und körperlich nicht mehr gut beieinander ist, hält man die Toten tunlichst von sich weg. Denn es gab in den Spuren der Mathematik, im März, im vierten Jahr schon dreihundertdreißig Tote. Da kann man sich die deutlichen Gefühle nicht mehr leisten. Da hat man nur noch kurz an sie gedacht.
Die fade Stimmung hat man abgestreift. Den Anflug einer mürben Trauer weggejagt, und zwar schon kurz bevor sie kam. Der Tod wird groß und sehnsüchtig nach allen. Man darf sich nicht mit ihm abgeben. Man muss ihn wegscheuchen wie einen lästigen Hund.
Nie mehr war ich so entschieden gegen den Tod wie in diesen fünf Lagerjahren. Gegen den Tod braucht man kein eigenes Leben, nur eines, das noch nicht ganz zu Ende ist.
Aber die ersten drei Toten im Lager sind:
Die taube Mitzi von zwei Waggons zerquetscht.
Die Kati Meyer im Zementturm verschüttet.
Die Irma Pfeifer im Mörtel erstickt.
Und in meiner Baracke ist der erste Tote der Maschinist Peter Schiel, vergiftet mit Steinkohleschnaps.
Die Todesursache heißt bei jedem anders, aber mit ihr dabei war immer der Hunger.
In den Spuren der Mathematik habe ich einmal beim Rasierer Oswald Enyeter in den Spiegel gesagt: Alles Einfache ist reines Resultat, und ein Gaumensegel hat jeder. Der Hungerengel wiegt jeden, und mit denen, die lockerlassen, springt er von der Herzschaufel. Das ist sein kausales Prinzip und sein Hebelgesetz.
Beides ist zwar nicht zu verachten, aber auch nicht zu verzehren, hat der Rasierer gesagt. Auch das ist ein Gesetz.
Ich habe in den Spiegel geschwiegen.
Deine Kopfhaut ist voll mit Eiterblümchen, hat der Rasierer gesagt, da hilft nur noch die Nullerschere.
Was für Blümchen, hab ich gefragt.
Es war eine Wohltat, als er anfing, mich kahlzuscheren.
Eines ist sicher, hab ich mir gedacht, der Hungerengel kennt seine Komplizen. Er hätschelt sie, dann lässt er sie fallen. Dann zerbrechen sie. Und er mit ihnen. Er ist aus demselben Fleisch, das er betrügt. Auch das ist sein Hebelgesetz.
Und was soll ich jetzt dazu sagen. Alles, was geschieht, ist immer das Einfache. Seine Reihenfolge hat ein Prinzip, wenn es dauert. Und wenn es fünf Jahre dauert, wird es undurchschaubar und nicht mehr beachtet. Und mir scheint, wenn man es später erzählen will, ist nichts da, was sich nicht einfügen ließe: Der Hungerengel denkt richtig, fehlt nie, geht nicht weg, kommt aber wieder, hat seine Richtung und kennt meine Grenzen, weiß meine Herkunft und seine Wirkung, geht offenen Auges einseitig, gibt seine Existenz immer zu, ist ekelhaft persönlich, hat einen durchsichtigen Schlaf, ist Experte für Meldekraut, Zucker und Salz, Läuse und Heimweh, hat Wasser im Bauch und in den Beinen. Mehr als Aufzählen kann man nicht.
Wenn du nicht lockerlässt, meinst du, es sei nur halb so schlimm. Aus dir spricht bis heute der Hungerengel. Egal was er sagt, die Klarheit bleibt groß:
1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot.
Nur darf man über den Hunger nicht reden, wenn man Hunger hat. Der Hunger ist kein Bettgestell, sonst hätte er ein Maß. Der Hunger ist kein Gegenstand.
Steinkohleschnaps
In einer durchwühlten Nacht, in der an Schlaf gar nicht zu denken war, in die nicht einmal die Gnade des Esszwangs kam, weil die Qual der Läuse nicht aufhörte, in so einer Nacht hat Peter Schiel gesehen, dass ich auch nicht schlafe. Ich hatte mich in meinem Bett aufgesetzt und schräg gegenüber hat auch er sich aufgesetzt in seinem Bett und mich gefragt:
Was heißt Geben und Nehmen.
Ich habe gesagt: Schlaf.
Dann habe ich mich wieder flach hingelegt. Er ist sitzen geblieben, und ich habe es glucksen gehört. Auf dem Basar hatte Bea Zakel für seinen Wollpullover Steinkohleschnaps getauscht. Er hat ihn getrunken. Und nichts mehr gefragt.
Am nächsten Morgen hat Karli Halmen gesagt, er hat noch ein paarmal gefragt, was Geben und Nehmen heißt. Da hast du tief geschlafen.
Zeppelin
Wo keine Koksbatterien, Exhaustoren und dampfenden Rohre sind, wo nur noch die weiße Kühlturmwolke von hoch oben hinsieht, wenn sie weit hinaus in die Steppe fliegt, wo die letzten Schienen enden und wir von der Jama aus beim Kohleabladen nur blühendes, über den Bauschutt wachsendes Unkraut sehen, also dort, wo hinter der Fabrik die Erde kahl und am schäbigsten ist, bevor sie in die Wildnis übergeht, kreuzen sich Trampelpfade. Und sie führen zu einem riesigen verrosteten Rohr, einem ausrangierten Mannesmann-Vorkriegsrohr. Es ist 7 bis 8 Meter lang und 2 Meter hoch. An einem Ende, am Kopfende in Richtung Jama, ist es zugeschweißt wie eine Zisterne. Am anderen, am Fußende in Richtung Brachland, ist es offen. Ein mächtiges Rohr, niemand weiß, wie es hierherkam. Seit wir ins Lager gekommen sind, weiß man wenigstens, wofür es gut ist. Alle nennen es ZEPPELIN.
Der Zeppelin selbst schwebt nicht silbrig im Himmel, aber den Verstand bringt er zum Schweben. Er ist ein Stundenhotel, das von der Lagerleitung und den Natschalniks geduldet wird. Im Zeppelin treffen sich unsere Lagerfrauen mit den deutschen Kriegsgefangenen, die hier in der Nähe im Brachland oder in den zerbombten Fabriken den Bauschutt wegräumen. Der Kowatsch Anton hat gesagt, sie kommen zur Katzenhochzeit mit unseren Frauen. Mach doch mal, wenn du Kohle schaufelst, die Augen auf.
Noch im Stalingrad-Sommer, in diesem letzten Sommer auf der Veranda zu Hause, hat aus dem Radio eine liebesdurstige, reichsdeutsche Frauenstimme gesagt:
Jede deutsche Frau schenkt dem Führer ein Kind.
Meine Fini-Tante hat meine Mutter gefragt: Wie machen wir das, kommt jetzt der Führer jeden Abend zu einer von uns nach Siebenbürgen, oder fahren wir alle der Reihe nach zu ihm ins Reich.
Es gab sauren Hasen, meine Mutter hat die Soße von einem Lorbeerblatt geleckt, das Blatt langsam durch den Mund gezogen. Und als es saubergeleckt war, hat sie es in ihr Knopfloch gesteckt. Ich hab mir gedacht, sie machen sich nur zum Schein über ihn lustig. Ihren Glitzeraugen sieht man an, dass sie sich das mehr als ein bisschen wünschen. Mein Vater hat das auch gesehen, er hat die Stirn gerunzelt und eine Weile vergessen zu kauen. Und meine Großmutter hat gesagt: Ich dachte, ihr wollt keine Männer mit Schnurrbart. Schickt dem Führer ein Telegramm, er soll sich vorher rasieren.
Da die Jama nach der Arbeit verlassen dalag und die Sonne noch grell über die Gräser schien, ging ich auf einem Trampelpfad zum Zeppelin und schaute hinein. Am Eingang war das Innenrohr schattig, in der Mitte dämmerig und ganz hinten sackdunkel. Am nächsten Tag machte ich beim Kohleschaufeln die Augen auf. Am späten Nachmittag sah ich Männer zu dritt oder viert durchs Unkraut kommen. Sie trugen andere Pufoaika-Jacken als wir, gestreifte. Kurz vor dem Zeppelin setzten sie sich bis übern Hals ins tiefe Gras. Bald hing am Eingang des Rohrs ein zerrissener Kissenbezug an einem Stecken, ein Zeichen für besetzt. Etwas später war das Fähnchen weg. Bald erschien es wieder und verschwand auch wieder. Sobald die ersten Männer weg waren, kamen die nächsten drei, vier und setzten sich ins Gras.