Mein Vater hat sich viel Mühe gegeben, er wollte mir das Pfeifen beibringen und wie man am Echo die Richtung deutet, wenn jemand pfeift, der sich im Wald verirrt hat. Und wie man ihn findet, indem man zurückpfeift. Den Nutzen des Pfeifens habe ich verstanden, aber nicht, wie man die Luft spitz aus dem Mund bläst. Ich habe sie falsch nach innen gezogen, dass die Brust sich aufblies, statt an den Lippen der Ton. Ich habe nie pfeifen gelernt. So oft er mir das Pfeifen vorführte, dachte ich nur an das, was ich sah, dass bei den Männern die Lippen innen glänzen, wie rosa Quarz. Er sagte, ich werde schon noch sehen, dass man es gebrauchen kann. Das Pfeifen, meinte er. Aber ich habe an die Glashaut der Lippen gedacht.
Eigentlich gehörte die Kuckucksuhr dem Hungerengel. Es ging hier im Lager doch gar nicht um unsere Zeit, nur um die Frage: Kuckuck, wie lang leb ich noch.
Planton-Kati
Katharina Seidel, die Planton-Kati kam aus dem Banat, aus Bakowa. Entweder hat sich jemand aus ihrem Dorf von der Liste freigekauft und ein Schuft hat sie als Ersatz genommen. Oder war der Schuft ein Sadist und sie stand von Anfang an auf der Liste. Sie war schwachsinnig geboren und wusste fünf Jahre nicht, wo sie ist. Sie war eine korpulente Frau in klein, als halbes Kind nicht mehr in die Höhe, nur noch in die Breite gewachsen. Sie hatte einen langen braunen Zopf und einen Kranz aus Kräuselhaaren um die Stirn und im Nacken. Die erste Zeit kämmten die Frauen sie täglich, und als die Läuseplage anfing, alle paar Tage.
Die Planton-Kati war für keine Arbeit zu gebrauchen. Sie verstand nicht, was eine Norm ist, ein Befehl oder eine Strafe. Sie brachte den Ablauf der Schicht durcheinander. Um sie mit etwas zu beschäftigen, wurde im zweiten Winter der Planton-Dienst für sie erfunden. Sie sollte nachts abwechselnd in den Baracken Wache halten.
Eine Zeitlang kam sie in unsere Baracke, setzte sich an den kleinen Tisch, legte die Arme zusammen, kniff die Augen zu und schaute ins stachlige Dienstlicht der Glühbirne. Der Stuhl war zu hoch, ihre Füße reichten nicht auf den Boden. Wenn die Langweile kam, hielt sie sich mit den Händen am Tischrand und geigte mit dem Stuhl vor und zurück. Sie hielt es kaum eine Stunde aus, dann ging sie in eine andere Baracke.
Im Sommer kam sie nur noch in unsere Baracke und blieb die ganze Nacht, weil ihr die Kuckucksuhr gefiel. Die Uhrzeit konnte sie nicht lesen. Sie setzte sich unters Dienstlicht, legte die Arme zusammen und wartete, dass der Gummiwurm aus dem Türchen kommt. Wenn er schnarrte, öffnete sie den Mund, als würde sie beim Scheppern mitmachen, blieb aber stumm. Wenn der Gummiwurm zum zweiten Mal erschien, war sie schon mit dem Gesicht auf dem Tischchen eingeschlafen. Bevor sie einschlief, holte sie ihren Zopf vom Rücken aufs Tischchen und hielt ihn beim Schlafen die ganze Nacht in der Hand. Vielleicht war sie dann nicht so allein. Vielleicht fürchtete sie sich im Wald dieser 68 Männerbetten. Vielleicht half ihr der Zopf wie mir der Tannenzapfen im Wald. Oder sie wollte, mit dem Zopf in der Hand, nur sicher sein, dass man ihn nicht stehlen kann.
Der Zopf wurde ihr gestohlen, aber nicht von uns. Als Strafe fürs Einschlafen brachte Tur Prikulitsch die Planton-Kati in die Krankenbaracke. Die Feldscherin musste sie kahlscheren. An diesem Abend kam die Planton-Kati mit dem abgeschnittenen Zopf um den Hals in die Kantine und legte ihn wie eine Schlange auf den Tisch. Sie tunkte das obere Zopfende in die Suppe und hielt es an den kahlen Kopf, damit es wieder anwächst. Sie gab auch dem unteren Zopfende zu essen und weinte. Die Heidrun Gast nahm ihr den Zopf weg und sagte, es sei besser, wenn sie ihn vergisst. Nach dem Essen warf sie den Zopf in eines der Feuerchen im Hof, und die Planton-Kati schaute wortlos zu, wie er verbrannte.
Die Planton-Kati mochte auch kahlgeschoren die Kuckucksuhr und schlief auch kahlgeschoren nach dem ersten Schnarren des Gummiwurms ein und hielt die Hand gekrümmt, als wäre der Zopf drin. Auch als die Haare nachwuchsen, schlief sie ein, hielt im Schlaf die Hand gekrümmt, obwohl die Haare nur fingerlang waren. Monatelang schlief die Planton-Kati ein, bis sie wieder kahlgeschoren wurde und die Haare so schütter nachwuchsen, dass man mehr Läusebisse als Haare sah. Sie schlief so lange ein, bis Tur Prikulitsch begriff, dass man jeden verelendeten Menschen drillen, aber Schwachsinn nicht gefügig machen kann. Der Planton-Dienst wurde abgeschafft.
Bevor sie kahlgeschoren war, setzte sich die Planton-Kati beim Appell mitten in der Reihe auf ihre Wattemütze in den Schnee. Schischtwanjonow schrie: Faschistin, aufstehen. Tur Prikulitsch riss sie am Zopf hoch, wenn er losließ, setzte sie sich wieder. Er trat ihr ins Kreuz, bis sie gekrümmt liegenblieb, ihren Zopf in die Faust drückte und die Faust in den Mund. Das Zopfende hing heraus, als hätte sie von einem kleinen braunen Vogel schon die Hälfte abgebissen. Sie blieb liegen, bis ihr jemand von uns nach dem Appell auf die Beine half und sie in die Kantine führte.
Über uns konnte Tur Prikulitsch verfügen, doch mit der Planton-Kati gab er sich nur die Blöße der Grobheit. Und als auch die ihm missglückte, die Blöße des Mitleids. Unverbesserlich und hilflos nahm die Planton-Kati seinem Herrschen den Sinn. Um sich nicht zu blamieren, wurde Tur Prikulitsch zahm. Beim Appell musste die Planton-Kati nun vorne neben ihm auf dem Boden sitzen. Stundenlang saß sie auf ihrer Wattemütze und schaute ihm verwundert zu wie einer Gliederpuppe. Nach dem Appell war ihre Mütze am Schnee festgefroren, man musste sie vom Boden losreißen.
An drei Sommerabenden nacheinander störte die Planton-Kati den Appell. Eine Zeitlang blieb sie still neben Prikulitsch sitzen, dann rückte sie nah an seine Füße und polierte mit ihrer Mütze seinen Schuh. Er trat ihr auf die Hand. Sie zog die Hand weg und polierte den anderen Schuh. Er trat auch mit dem zweiten auf ihre Hand. Als er den Fuß hob, sprang sie auf und rannte mit flatternden Armen durch die Appellreihen und gurrte wie eine Taube. Alle hielten den Atem an, und Tur lachte hohl, wie große Truthähne bellen.
Dreimal konnte die Planton-Kati seine Schuhe polieren und eine Taube sein. Danach durfte sie nicht mehr beim Appell erscheinen. Sie musste während der Appellzeit in den Baracken die Fußböden wischen. Sie nahm sich am Brunnen Wasser in den Eimer, drückte den Lappen aus, wickelte ihn um den Besen, wechselte nach jeder Baracke am Brunnen das dreckige Wasser. In ihren Kopf kam keine Unsicherheit, die den Vorgang störte. Der Fußboden war sauber wie nie zuvor. Sie wischte gründlich und ohne Eile, vielleicht aus Gewohnheit von zu Hause.
So verrückt war sie gar nicht. Zum Appell sagte sie APFEL.
Wenn ein Glöckchen an den Koksbatterien bimmelte, meinte sie, in der Kirche fängt die Messe an. Sie musste sich die Täuschung gar nicht ausdenken, weil ihr Kopf gar nicht hier war. Ihr Verhalten passte sich nicht der Lagerordnung, aber den Zuständen an. In ihr hauste etwas Elementares, um das wir sie beneideten. In ihren Instinkten kannte sich nicht einmal der Hungerengel aus. Er suchte sie heim wie uns alle, aber er stieg ihr nicht bis ins Hirn. Sie tat das Einfachste ohne Wahl, überließ sich den Zufällen. Sie überlebte das Lager, ohne zu hausieren. Bei den Küchenabfällen hinter der Kantine war sie nie zu sehen. Sie aß, was auf dem Lagerhof und Fabrikgelände zu finden war. Blüten, Blätter und Samen im Unkraut. Und allerlei Getier, Würmer und Raupen, Maden und Käfer, Schnecken und Spinnen. Und im Schneehof des Lagers den gefrorenen Kot der Wachhunde. Man wunderte sich, wie die Wachhunde ihr vertrauten, als sei dieser torkelige Mensch mit der Ohrenmütze einer von ihnen.
Der Irrsinn der Planton-Kati hielt sich immer in einem entschuldbaren Umfang. Sie war nicht anhänglich und nicht abweisend. All die Jahre behielt sie die Natürlichkeit eines im Lager heimischen Haustiers. Sie hatte überhaupt nichts Fremdes. Wir mochten sie.
An einem Septembernachmittag war meine Schicht zu Ende, die Sonne schien noch stechend heiß. Ich verlor mich auf den Trampelpfaden hinter der Jama. Zwischen feurigem Meldekraut, das man längst nicht mehr essen konnte, wiegte sich, versengt vom Sommer, der wilde Hafer. Seine Gräten schimmerten wie Fischskelette. In den harten Schalen waren die Körner noch milchig. Ich aß. Auf dem Rückweg wollte ich nicht mehr durchs Unkraut schwimmen und ging am kahlen Weg entlang. Neben dem Zeppelin saß die Planton-Kati. Ihre Hände lagen auf einem Ameisenhügel und wimmelten schwarz. Sie leckte sie ab und aß. Ich fragte: Kati, was machst du.