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Ich mach mir Handschuhe, die kitzeln, sagte sie.

Ist dir kalt, fragte ich.

Sie sagte: Heute nicht, morgen. Meine Mutter hat mir Mohnkipfel gebacken, sie sind noch warm. Geh nicht mit den Füßen drauf, kannst doch warten, du bist doch kein Jäger. Wenn die Kipfel alle sind, werden die Soldaten beim Apfel gezählt. Dann fahren sie nach Hause.

Da waren ihre Hände wieder wimmelnd schwarz. Bevor sie die Ameisen ableckte, fragte sie: Wann ist der Krieg aus.

Ich sagte: Der Krieg ist schon zwei Jahre aus. Komm, gehen wir hinüber ins Lager.

Sie sagte: Siehst du nicht, jetzt habe ich keine Zeit.

Der Kriminalfall mit dem Brot

Fenja hatte nie eine Pufoaika-Jacke an, sondern einen weißen Arbeitskittel und darüber ihre gehäkelten Wolljacken, immer eine andere. Die eine war nussbraun, die andere schmutzlila, wie ungeschälte rote Rüben, eine war lehmgelb und eine weißgrau gesprenkelt. Jede hatte zu weite Ärmel und spannte über dem Bauch. Man wusste nie, welche Wolljacke für welchen Tag bestimmt ist und wozu Fenja sie überhaupt und noch dazu über den Kittel anzieht. Warmhalten konnten sie nicht, sie waren aus vielen Löchern und wenig Wolle. Vorkriegswolle, schon oft gestrickt und aufgezogen, die immer noch gut zum Häkeln war. Vielleicht die Wolle aller ausgedienten Jacken einer ganzen Großfamilie oder der geerbten Jacken aller Toten dieser Familie. Über Fenjas Familie wussten wir nichts, nicht einmal, ob sie vor oder nach dem Krieg eine hatte. An Fenja persönlich war keiner von uns interessiert. Aber jeder war ihr ergeben, weil sie das Brot verteilte. Sie war das Brot, die Herrin, der wir jeden Tag aus der Hand gefressen haben.

Unsere Augen hingen an ihr, als würde sie das Brot für uns erfinden. Unser Hunger beobachtete alles an Fenja sehr genau. Ihre Augenbrauen wie zwei Zahnbürsten, das Gesicht mit dem mächtigen Kinn, ihre zu kurzen Pferdelippen, die das Zahnfleisch nicht ganz bedeckten, die grauen Fingernägel mit dem großen Messer für die Feinabstimmung der Portionen, ihre Küchenwaage mit den zwei Schnäbeln. Vor allem ihre schweren Augen, leblos wie die Holzkugeln auf ihrem Abakus, den sie kaum benutzte. Dass Fenja abstoßend hässlich war, durfte man nicht einmal sich selbst eingestehen. Man hatte Angst, sie sieht, was man denkt.

Sobald sich die Schnäbel ihrer Waage auf und ab bewegten, folgte ich ihnen mit den Augen. Wie die Schnäbel zuckte mir im Mund die Zunge, ich biss die Zähne zusammen. Den Mund ließ ich offen, dass Fenja meine Zähne lächeln sieht. Man lächelte notgedrungen und grundsätzlich, echt und falsch in einem lächelte man, wehrlos und hinterhältig, um sich Fenjas Gunst nicht zu verscherzen. Um Fenjas Gerechtigkeit nicht zu riskieren, sondern aufzumuntern, wenn es geht, die Gerechtigkeit um ein paar Gramm zu erhöhen.

Es half nichts, Fenja blieb trotzdem missgelaunt. Und sie hatte einen viel zu kurzen rechten Fuß. Sie hinkte so stark zum Brotregal, dass wir sagten, sie lahmt. Der Fuß war so viel kürzer, dass er auch ihre Mundwinkel hinunterzog, den linken ständig, den rechten immer mal wieder. Und immer so, als käme die schlechte Laune von dem dunklen Brot, nicht von dem kurzen Fuß. Durch das Mundzucken kriegte besonders ihre rechte Gesichtshälfte etwas Gequältes.

Und da sie uns allen das Brot gab, waren ihr Lahmen und die Gequältheit in ihrem Gesicht für uns etwas Schicksalhaftes, wie der torkelige Gang der Geschichte. Fenja hatte etwas kommunistisch Heiliges. Sie war bestimmt eine treue Kaderfrau der Lagerleitung, eine Brotoffizierin, sonst hätte sie nie in den Rang einer Brotherrin und Komplizin des Hungerengels aufsteigen können.

Ganz allein stand sie in ihrer weißgekalkten Kammer mit dem großen Messer hinterm Schalter, zwischen Küchenwaage und Abakus. Sie musste Listen im Kopf haben. Sie wusste ganz genau, wer die 600-Gramm-, wer die 800-Gramm- und wer die 1000-Gramm-Ration zu bekommen hat.

Ich war der Hässlichkeit von Fenja erlegen. Mit der Zeit sah ich eine umgekrempelte Schönheit in ihr, die auf eine Verehrung hinauslief. Abscheu hätte mich hart gemacht und wäre vor den Schnäbeln der Waage riskant gewesen. Ich buckelte und kam mir dabei oft abstoßend vor, aber erst, nachdem ihr Brot mir geschmeckt hatte und ich halbwegs satt war für ein paar Minuten.

Heute glaube ich, Fenja verteilte alle drei Brotsorten, die ich damals kannte. Die erste Sorte war das siebenbürgische tägliche, seit eh und je im Schweiße seines Angesichts saure Brot vom evangelischen Herrgott. Die zweite war das braune Vollkornbrot von Hitlers goldenen Ähren aus dem deutschen Reich. Und die dritte war die Ration Chleb auf der russischen Waage. Und ich glaube, der Hungerengel wusste von dieser Dreifaltigkeit im Brot, und er nutzte sie.

Die Brotfabrik lieferte den ersten Transport im Morgengrauen. Wenn wir zwischen 6 und 7 Uhr in die Kantine kamen, hatte Fenja die Rationen schon fertig ausgewogen. Jedem von uns legte sie die Portion noch einmal auf die Waage, tarierte sie aus, tat noch ein Schnipsel drauf oder schnitt eine Ecke weg. Sie zeigte dann mit der Messerspitze auf die Schnäbel, hielt das Pferdekinn schief mit einem fremden Schauen, als sehe sie mich seit vierhundert Tagen jeden Morgen zum ersten Mal.

Schon ein halbes Jahr vorher, als der Kriminalfall mit dem Brot passierte, dachte ich mir, dass wir vor Hunger imstande sind zu töten, weil sich Fenjas kalte Heiligkeit ins Brot geschlichen hat.

Mit dem akkuraten Nachwiegen des Brotes zeigte Fenja uns, dass sie gerecht ist. Die fertiggewogenen Rationen lagen zugedeckt mit weißen Leintüchern in den Regalen. Für jede Ration deckte sie das Brot ein bisschen auf und wieder zu, genauso wie geübte Bettler den Kohlebrocken beim Hausieren. Fenja zelebrierte in der weißgekalkten Kammer, im weißen Kittel, mit den weißen Leintüchern die Brothygiene als Lagerkultur. Als Weltkultur. Die Fliegen mussten sich auf die Leintücher setzen statt aufs Brot. Aufs Brot kamen sie erst, wenn wir es in der Hand hatten. Wenn sie nicht schnell genug wegflogen, aßen wir mit unserem Brot auch ihren Hunger mit. Über den Hunger der Fliegen habe ich nie nachgedacht, nicht einmal über die inszenierte Hygiene mit den weißen Leintüchern.

Fenjas Gerechtigkeit machte mich regelrecht hörig, diese Paarung von Schiefmäuligkeit und Präzision auf der Waage. Das Abstoßende an Fenja war eine Perfektion. Fenja war weder gut noch böse, sie war keine Person, sondern ein Gesetz in Häkeljacken. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, Fenja mit anderen Frauen zu vergleichen, weil keine andere so gequält diszipliniert und makellos hässlich war. Sie war wie das begehrte, schrecklich nasse, klebrige, schandbar nahrhafte, rationierte Kastenbrot.

Die Brotration bekamen wir morgens für den ganzen Tag. Wie die meisten gehörte ich zu den 800-Gramm-Kandidaten, es war die Normalration. 600 Gramm gab es für die Leichtarbeit auf dem Lagergelände: Latrinenkot in Zisternen füllen, Schneekehren, Herbst- und Frühjahrsputz, Randsteine vom Korso weißen. Und 1000 Gramm bekamen wenige, es war die Ausnahme für Schwerstarbeit.

Schon 600 Gramm klingt nach viel. Aber das Brot war so schwer, dass selbst 800 Gramm nur eine daumendicke Scheibe ergaben, wenn sie aus der Mitte des Brotes geschnitten wurde. Wenn man Glück hatte und das Brotende mit der eckigen trockenen Kruste bekam, war die Scheibe zwei Daumen dick.

Die erste Entscheidung des Tages war: Bin ich so standhaft, heute beim Frühstück nicht die ganze Ration zur Krautsuppe zu essen. Kann ich mir mitten im Hunger ein Stückchen aufheben für den Abend. Mittagessen gab es keines, man war in der Arbeit und hatte nichts zu entscheiden. Abends nach der Arbeit kam, falls ich beim Frühstück standhaft geblieben war, die zweite Entscheidung: Bin ich so standhaft, nur unters Kissen zu greifen, ob mein gespartes Brot da ist. Kann ich warten, bis der Abendappell vorbei ist und es erst in der Kantine essen. Das konnte noch zwei Stunden dauern. Wenn der Appell nicht aufhörte, noch länger.