Kochrezepte erzählen ist eine größere Kunst als Witze erzählen. Die Pointe muss sitzen, obwohl sie nicht lustig ist. Hier im Lager beginnt der Witz schon mit: Man nehme. Dass man nichts hat, das ist die Pointe. Aber die spricht niemand aus. Kochrezepte sind die Witze des Hungerengels.
Es ist ein Spießrutenlauf, bis man in der Frauenbaracke sitzt. Beim Eintreten muss man, bevor man gefragt wird, sagen, wen man sucht. Am besten fragt man selbst: Ist die Trudi da. Und während man fragt, geht man am besten schon nach links, dritte Reihe, auf das Bett der Trudi Pelikan zu. Die Betten sind einstöckige Eisengestelle wie in den Männerbaracken. Manche Betten sind mit Decken zugehängt für die Abendliebe. Ich will nie hinter die Decke, ich will nur Kochrezepte. Die Frauen glauben, dass ich zu schüchtern bin, weil ich einmal Bücher hatte. Sie meinen, lesen macht delikat.
Meine mitgebrachten Bücher habe ich im Lager nie gelesen. Papier ist streng verboten, den ersten halben Sommer habe ich meine Bücher hinter der Baracke unter Ziegelsteinen versteckt. Und dann verschachert. Für 50 Seiten Zarathustra-Zigarettenpapier habe ich 1 Maß Salz bekommen, für 70 Seiten sogar 1 Maß Zucker. Für den ganzen Faust in Leinen hat der Peter Schiel mir einen eigenen Läusekamm aus Blech gemacht. Die Sammlung Lyrik aus acht Jahrhunderten habe ich in Form von Maismehl und Schweineschmalz gegessen und den schmalen Weinheber in Hirse verwandelt. Davon wird man nicht delikat, nur diskret.
Diskret schau ich mir nach der Arbeit die jungen Dienstrussen unter der Dusche an. So diskret, dass ich selbst nicht mehr weiß, warum. Die würden mich totschlagen, wenn ich es wüsste.
Ich war wieder nicht standhaft. Ich hab mein ganzes Brot zum Frühstück gegessen. Ich sitze wieder in der Frauenbaracke neben der Trudi Pelikan auf der Bettkante. Die zwei Zirris kommen dazu und setzen sich vis-à-vis aufs Bett von der Corina Marcu. Sie ist seit Wochen auf dem Kolchos. Ich schau mir die goldenen Härchen und die dunkle Warze auf den mageren Fingern der beiden Zirris an und erzähle, um nicht gleich vom Essen zu reden, von der Kindheit.
Wir sind jeden Sommer aus der Stadt hinaus aufs Land gefahren, in die großen Ferien. Wir, das sind meine Mutter, ich und das Dienstmädchen Lodo. Unser Sommerhaus war auf der Wench, und der Berg gegenüber war das Schnürleibl. Wir blieben acht Wochen. In diesen acht Wochen machten wir jedesmal einen Tagesausflug nach Schäßburg, die nächste Stadt. Einsteigen mussten wir unten im Tal. Die Station hieß auf ungarisch Hétur und auf deutsch Siebenmänner. Auf dem Dach des Wärterhäuschens bimmelte die Glocke, weil der Zug jetzt in Danesch abfuhr. In fünf Minuten war er hier. Bahnsteig gab es keinen. Wenn der Zug einfuhr, reichte mir die Treppe bis zur Brust. Ich sah mir, bevor wir einstiegen, den Waggon von unten an — die schwarzen Räder mit dem blanken Umlauf, die Ketten, Haken und Puffer. Dann fuhren wir an der Badestelle vorbei, am Haus des Toma und am Feld vom alten Zacharias. Er bekam monatlich von uns zwei Päckchen Tabak als Wegmaut, weil wir durch seine Gerste mussten, wenn wir baden gingen. Dann kam die Eisenbrücke, unten wälzte sich das gelbe Wasser. Dahinter stand der zerfressene Sandfelsen mit der Villa Franca obendrauf. Da waren wir schon in Schäßburg. Wir gingen jedesmal gleich auf den Marktplatz ins elegante Café Martini. Unter den Gästen fielen wir ein bisschen auf, weil wir zu leger gekleidet waren — die Mutter im Hosenrock und ich in kurzen Hosen mit grauen Kniestrümpfen, die nicht so schnell schmutzen. Nur Lodo trug ihre Sonntagskleider aus dem Dorf, die weiße Bauernbluse und das schwarze Kopftuch mit dem Rosensaum und grünen Seidenfransen. Rotschattierte Rosen, die so groß wie Äpfel waren, größer als wirkliche Rosen. Wir durften an diesem Tag alles essen, was wir wollten, und so viel wir konnten. Wir durften wählen zwischen Marzipantrüffeln, Mohrenköpfen und Savarins, Cremeschnitten, Nussroulade, Faumrollen und Ischler, Haselnusskroketten, Rumtorte, Napoleonschnitten, Nougat und Dobosch. Dann auch noch Eis, Erdbeereis im Silberbecher oder Vanilleeis im Glasbecher oder Schokoladeeis im Porzellanschälchen, immer mit Schlagsahne. Und als Abschluss, wenn wir dann noch konnten, Weichselkuchen mit Gelee. Ich spürte an den Armen den kühlen Marmor der Tischplatte und in den Kniekehlen den weichen Plüsch vom Stuhl. Und oben auf dem schwarzen Buffet, im Wind des Ventilators, schaukelte in einem langen roten Kleid und mit der Zehenspitze auf einem sehr, sehr schmalen Mond die Mondsichelmadonna.
Als ich das erzählt hatte, schaukelte uns allen auf der Bettkante der Magen. Die Trudi Pelikan steckte den Arm hinter mir unters Kissen und nahm ihr gespartes Brot. Alle griffen nach ihrem Blechnapf und steckten ihren Löffel in die Jacke. Ich hatte mein Esszeug schon dabei, wir gingen zusammen zum Abendessen. Wir stellten uns vor dem Suppenkessel in die Schlange. Alle saßen wir dann an den langen Tischen. Jeder löffelte nach seiner Methode, um die Suppe zu strecken. Alle schwiegen. Vom Tischende fragte die Trudi Pelikan durch das Blechgeschepper: Leo, wie heißt das Café.
Ich rief: Café Martini.
Zwei, drei Löffel später fragte sie: Und wie heißt die Frau auf den Zehenspitzen. Ich rief: Mondsichelmadonna.
Vom Eigenbrot zum Wangenbrot
In die Brotfalle tappt jeder.
In die Falle der Standhaftigkeit beim Frühstück, in die Falle des Brottausches beim Abendessen, in die Falle der Nacht mit dem gesparten Brot unterm Kopf. Die schlimmste Falle des Hungerengels ist die Falle der Standhaftigkeit: Hunger haben und Brot haben, es aber nicht essen. Härter sein gegen sich selbst als tiefgefrorene Erde. Der Hungerengel sagt jeden Morgen: Denk an den Abend.
Abends vor der Krautsuppe wird Brot getauscht, denn das Eigenbrot scheint immer kleiner als das Brot der anderen. Und den anderen geht es genauso.
Vor dem Tausch kommt ein schleudernder Moment ins Hirn und nach dem Tausch sofort ein zweifelnder. Nach dem Tausch, in der Hand des anderen, ist mein weggegebenes Brot größer, als es in meiner Hand war. Und was ich bekommen habe, ist in meiner Hand geschrumpft. Wie schnell sich der andere wegdreht, er hat bessere Augen als ich, er hat profitiert. Ich muss wieder tauschen. Aber dem anderen geht es genauso, er glaubt, ich habe profitiert und ist auch beim Zweittausch. Und wieder schrumpft das Brot in meiner Hand. Ich suche mir einen Dritten und tausche. Andere essen schon. Wenn der Hunger es noch eine Weile aushält, kommt es zum Vierttausch, zum Fünfttausch. Und wenn gar nichts mehr hilft, dann kommt es zum Rücktausch. Dann habe ich wieder mein Eigenbrot.
Brottauschen ist immer nötig. Es geht schnell und immer scharf daneben. Das Brot betrügt dich wie der Zement. So wie man zementkrank wird, kann man vom Brot tauschkrank werden. Der Brottausch ist das Gepolter des Abends, ein glitzriges Geschäft mit den Augen und ein zittriges mit den Fingern. Morgens tasten die Schnäbel an der Brotwaage, abends tasten die Augen. Für den Brottausch sucht man nicht nur das richtige Brot, man sucht sich auch das richtige Gesicht. Man taxiert beim anderen das Schlitzmaul. Am besten ist es schmal und lang wie ein Stück von der Sense. Man taxiert den Hungerpelz in seinen Wangendellen, ob die feinen weißen Haare lang und dicht genug sind. Vor dem Hungertod wächst ein Hase im Gesicht. Da denkt man sich, dass bei dem das Brot schon vergeudet ist, dass sich bei dem das Nähren nicht mehr auszahlt, weil bald der weiße Hase ausgewachsen ist. Deshalb nennt man das getauschte Brot von denen mit dem weißen Hasen Wangenbrot.
Morgens hat man keine Zeit, aber es gibt auch nichts zu tauschen. Das frischgeschnittene Brot sieht gleich aus. Bis abends ist jede Scheibe anders getrocknet, eckig gerade oder bauchig krumm. Aus der Optik des Trocknens kommt das Gefühl, dass dein Brot dich betrügt. Dieses Gefühl haben alle, auch wenn sie nicht tauschen. Und beim Tauschen wird das Gefühl stimuliert. Man wechselt von einer optischen Täuschung zur anderen. Danach ist man immer noch betrogen, aber müde. Der Tausch vom Eigenbrot zum Wangenbrot hört auf, wie er anfängt, plötzlich. Das Gepolter ist weg, der Blick geht auf die Suppe. In einer Hand hält man das Brot, in der anderen den Löffel.