Unsere Fuhren wurden auch nicht wegen der Schönheit gemacht. Wir holten tonnenweise gelben Sand, die Baustellen fraßen ihn. Die Sandgrube hieß CARJERA. Sie war unerschöpflich, mindestens 300 Meter lang und 20 bis 30 Meter tief, überall nur Sand. Eine Arena aus Sand in einem Tagebau aus Sand. Die ganze Gegend konnte sich bedienen. Und je mehr Sand geholt wurde, desto höher wurde die Arena, desto tiefer fraß sie sich in den Boden.
Wenn man chitrij, schlau, war, dirigierte man das Auto ganz in den Sandhang hinein, so dass man nicht aufwärts schaufeln musste, sondern lässig auf gleicher Höhe, oder sogar bequem hinunterschippen konnte.
Die Carjera war betörend wie der Abdruck von einem großen Zeh. Purer Sand, kein Krümel Erde dazwischen. Gradlinige, waagrechte Schichtungen, wachsweiß, hautblass, fahlgelb, grellgelb, ocker und rosé übereinander. Kühl und feucht. Der Sand wurde flockig beim Schaufeln, trocknete beim Fliegen in der Luft. Die Schaufel ging wie von selbst. Das Auto füllte sich schnell. Und es lud sich von selbst ab, ein Kipplaster. Karli Halmen und ich warteten hier in der Sandgrube, bis Kobelian wiederkam.
Sogar Kobelian ließ sich in den Sand fallen und blieb, während wir aufluden, liegen. Sogar die Augen machte er zu, vielleicht schlief er. Wenn das Auto voll war, klopften wir ihm mit der Schaufelspitze leicht an den Schuh. Er sprang auf und stapfte wie ein Drahtmensch zur Kabine. Und im Sand blieb der Abdruck seines Körpers, als wäre Kobelian zweimal da, einmal liegend in Hohlform und einmal mit feuchtem Hosenboden neben der Kabine stehend. Bevor er einstieg, spuckte er zweimal in den Sand, fasste mit einer Hand das Lenkrad an und rieb sich mit der anderen die Augen. Dann fuhr er los.
Jetzt ließen Karli und ich uns in den Sand fallen und horchten, wie er nachrieselt und sich am Körper anschmiegt, sonst taten wir nichts. Oben bog sich der Himmel. Zwischen Himmel und Sand zog sich die Grasnarbe als Nullinie. Die Zeit still und glatt, rundum ein mikroskopisches Glitzern. Es kam Ferne in den Kopf, als wäre man abgehauen und gehöre jedem Sand in jeder Gegend der Welt, nicht der Zwangsarbeit hier. Flucht im Liegen war das. Ich ließ die Augen kreisen, ich war echappiert unter den Horizont ohne Gefahr und Folgen. Der Sand hielt mir von unten den Rücken, und der Himmel holte mein Gesicht zu sich hinauf. Bald wurde der Himmel blind, und meine Augen zogen ihn zu sich herunter, Augäpfel und Stirnhöhle waren vom Himmel gefüllt, durch und durch reglos blau. Zugedeckt vom Himmel wusste niemand, wo ich bin. Nicht einmal das Heimweh. Im Sand setzte der Himmel nicht die Zeit in Gang, doch er konnte sie auch nicht zurückdrehen, so wie der gelbe Sand auch den Frieden nicht ändern konnte, nicht den dritten, nicht den vierten. Auch nach dem vierten Frieden waren wir im Lager.
Karli Halmen lag auf dem Gesicht in seiner Delle. Die verheilten Narben des Brotdiebstahls schimmerten wie Wachsschrammen durch sein kurzes Haar. Durch seine Ohrmuschel leuchtete die rote Seide der Äderchen. Ich dachte an meine letzten Rendezvous im Erlenpark und Neptunbad mit diesem einen, doppelt so alten, verheirateten Rumänen. Wie lange er, als ich zum ersten Mal nicht kam, auf mich gewartet hatte. Und wie oft, bis er verstanden hat, dass ich auch die nächsten Male und nie mehr wiederkommen werde. Kobelian konnte frühestens in einer halben Stunde wiederkommen.
Und wieder hob es mir die Hand, ich wollte Karli Halmen streicheln. Zum Glück half er mir aus der Versuchung. Er hob das Gesicht aus dem Sand, und er hatte in den Sand gebissen. Er aß, und es knirschte in seinem Mund, und er schluckte. Ich war erstarrt, und er füllte sich den Mund zum zweiten Mal. Von seinen Wangen fielen die Sandkörner ab, als er kaute. Und ihr Abdruck war ein Sieb auf den Wangen und auf der Nase und auf der Stirn. Und die Tränen auf beiden Wangen eine hellbraune Schnur.
Als Kind habe ich die Pfirsiche angebissen und mit dem Biss nach unten fallengelassen, sagte er. Dann habe ich sie aufgehoben und die sandige Stelle gegessen und sie wieder fallengelassen. Bis nur der Kern übrig war. Mein Vater ist mit mir zum Arzt gegangen, weil ich nicht normal bin, weil mir der Sand schmeckt. Jetzt habe ich Sand genug und weiß gar nicht mehr, wie ein Pfirsich ausschaut.
Ich sagte: Gelb, mit feinen Härchen und bisschen roter Seide um den Kern.
Wir hörten das Auto kommen und standen auf.
Karli Halmen begann zu schaufeln. Wenn er die Schaufel füllte, liefen die Tränen gerade herunter. Wenn er den Sand fliegen ließ, liefen sie links in den Mund und rechts ins Ohr.
Die Russen haben auch ihre Wege
Karli Halmen und ich sind mit dem Lancia wieder mal quer über die Steppe gefahren. In alle Richtungen liefen Erdhunde. Überall Räderspuren, niedergewalzte Grasbüschel rotbraun lackiert mit getrocknetem Blut. Überall die Prozession der Fliegenschwärme auf dem zerquetschten Pelz mit herausgequollenen Eingeweiden. Viele glänzten noch ganz frisch, bläulichweiß geringelt wie ein Haufen Perlmuttketten. Andere waren blaurot und halb verrottet, oder schon so verdorrt wie Trockenblumen. Und jenseits der Räderspuren lagen die weggeschleuderten Erdhunde, als hätten ihnen die Räder nichts angetan, als würden sie schlafen. Karli Halmen sagte: Tot sehen sie aus wie Bügeleisen. Nie und nimmer sahen sie aus wie Bügeleisen. Dass er an so etwas dachte, ich hatte dieses Wort schon vergessen.
Es gab Tage, an denen die Erdhunde zu wenig Angst vor den Rädern hatten. Vielleicht hatte der Wind an solchen Tagen denselben Sog wie der Autolärm und verwirrte ihre Instinkte. Wenn die Räder auf sie zukamen, liefen sie, aber benommen und keinesfalls um ihr Leben. Ich war mir sicher, dass Kobelian sich nie die Mühe machte, einem Erdhund auszuweichen. Und genauso sicher, dass er noch nie einen überfahren hatte, noch nie hatte einer unter den Rädern gequiekt. Dieses hohe Pfeifen hätte man auch nicht gehört, weil der Lancia zu laut war.
Trotzdem weiß ich, wie ein Erdhund unterm Auto pfeift, weil ich es bei jeder Fahrt im Kopf höre. Kurz, herzzerreißend, drei Silben hintereinander pfeift er: Hasoweh. Wie wenn man ihn mit der Schaufel erschlägt, genauso, weil es genauso schnell geht. Und ich weiß auch, wie an dieser Stelle die Erde erschrickt und kreisrund vibriert, genauso wie ein dicker Stein ins Wasser fällt. Ich weiß auch, wie einem gleich danach die Lippe brennt, weil man draufbeißt, wenn man ihn mit einem Hieb und aller Kraft getroffen hat.
Seitdem ich ihn liegengelassen habe, rede ich mir ein, dass man Erdhunde nicht essen kann, auch wenn man für die lebenden keine Spur von Mitleid und vor den toten kein bisschen Ekel hat. Falls ich es hätte, würden sich Mitleid und Ekel nicht um die Erdhunde scheren, sondern um mich. Es wäre nur Ekel vor meinem Zaudern aus Mitleid, nicht vor dem Erdhund.
Aber wenn Karli und ich nächstes Mal Zeit hätten, wenn wir aussteigen könnten, bis Kobelian seine drei vier Säcke vollgestopft hätte mit jungem Gras für seine Ziegen, wenn wir so lange Zeit hätten. Ich glaube, dass Karli Halmen nicht mitmachen würde, weil ich dabei bin. Ich müsste die Zeit vergeuden und ihm gut zureden, bis es fast zu spät wäre, wenn wir nächstes Mal Zeit hätten. Vor einem Erdhund muss man sich nicht schämen, müsste ich sagen, und nicht vor der Steppe. Ich glaube, er würde sich vor sich selber genieren, jedenfalls mehr als ich mich vor mir. Und mehr als ich vor Kobelian. Ich müsste ihn wahrscheinlich fragen, wieso er Kobelian zum Maßstab macht. Ich bin überzeugt, wenn Kobelian so weit wie wir von zu Hause weg wäre, würde er Erdhunde essen, müsste ich sagen.
Manche Tage waren nur niedergewalzte braunlackierte Grasbüschel in der Steppe, von einem Tag auf den andern. Und die Wolken waren alle geschmolzen von einem Tag auf den andern. Es blieben nur die mageren Kraniche oben im Himmel und die wilden fetten Schmeißfliegen auf der Erde. Aber es lag kein einziger toter Erdhund im Gras.
Wo sind sie, würde ich Karli fragen. Schau doch, die Russen, warum gehen so viele zu Fuß durch die Steppe und bücken sich. Eine Zeitlang bleiben sie sitzen. Glaubst du, die ruhen sich aus, die sind alle müd. Die haben auch so ein Nest im Schädel wie wir, denselben leeren Bauch haben die wie wir. Die Russen haben auch ihre Wege. Und mehr Zeit als wir, die sind hier in der Steppe zu Hause. Kobelian hat nichts dagegen. Wieso liegt neben der Fußbremse immer eine kurzstielige Schaufel in der Kabine, das Gras rupft er doch mit der Hand. Wenn wir nicht dabei sind, steigt er nicht nur für Ziegengras aus, würde ich zu Karli sagen und bräuchte nicht zu lügen, weil ich die Wahrheit gar nicht weiß. Selbst wenn ich sie wüsste, wär es nur die eine Wahrheit, und das Gegenteil wäre die andere. Auch du und ich sind mit Kobelian anders als ohne ihn, würde ich sagen. Auch ich bin anders ohne dich. Nur du bildest dir ein, dass du nie anders bist. Beim Brotstehlen warst du doch anders und ich war anders und alle anderen auch — aber das würde ich niemals sagen, weil es ein Vorwurf wäre.