Gegen Morgen wurde es kühl, ein Himmel aus Milchglas. Die Füße wurden leichter, wenigstens im Kopf, denn der Schichtwechsel war nah und man wollte vergessen, wie müde man ist. Auch der Scheinwerfer war müde, vom Tageslicht verhangen und fahl. Über unseren unwirklichen Heldenfriedhof legte sich die blaue Luft, auf alle Reihen gleich, über alle Steine. Eine stille Gerechtigkeit breitete sich aus, die einzige, die es hier gab.
Der Schlackoblock hatte es gut, unsere Toten hatten weder Reihen noch Steine. Daran durfte man nicht denken, sonst hätte man die nächsten Tage oder Nächte nicht tänzeln und balancieren können. Wenn man ein wenig daran dachte, gab es viel Ausschuss und viel Prügel auf den Rücken.
Der gutgläubige und der skeptische Flacon
Es war die Hautundknochenzeit, die Ewigkeit der Krautsuppe. Kapusta am Morgen beim Aufstehen, Kapusta am Abend nach dem Appell. KAPUSTA ist Kraut auf russisch, und russische Krautsuppe heißt, dass oft überhaupt kein Kraut drin ist. Kapusta ist ohne das Russische und ohne Suppe ein Wort aus zwei Dingen, die nichts gemeinsam haben, außer diesem Wort. CAP ist der rumänische Kopf, PUSTA ist die ungarische Tiefebene. Und man denkt sich das auf deutsch, und das Lager ist russisch wie die Krautsuppe. Mit so unsinnigem Zeug will man schlau sein. Aber das zerlegte Wort KAPUSTA taugt nicht zum Hungerwort. Hungerwörter sind eine Landkarte, statt Ländernamen sagt man sich die Namen vom Essen in den Kopf. Hochzeitssuppe, Faschiertes, Rippchen, Eisbein, Hasenbraten, Leberknödel, Rehkeule, Saurer Hase usw.
Jedes Hungerwort ist ein Esswort, man hat das Bild des Essens vor Augen und den Geschmack am Gaumen. Hungerwörter oder Esswörter füttern die Phantasie. Sie essen sich selbst, und es schmeckt ihnen. Man wird nicht satt, ist aber wenigstens beim Essen dabei. Jeder chronisch Hungrige hat seine eigenen Präferenzen, seltene, häufige und ständige Esswörter. Jedem schmeckt ein anderes Wort am besten. So wie Kapusta taugte auch das Meldekraut nicht als Esswort, weil es wirklich gegessen wurde. Werden musste.
Ich glaube, im Hunger sind Blindheit und Sehen dasselbe, der blinde Hunger sieht das Essen am besten. Es gibt stumme und laute Hungerwörter, so wie es am Hunger selbst das Heimliche und das Öffentliche gibt. Hungerwörter, also Esswörter, beherrschen die Gespräche, und man bleibt doch allein. Jeder isst seine Wörter selbst. Die anderen, die mitessen, tun es auch für sich selbst. Die Anteilnahme am Hunger der anderen ist null, mithungern kann man nicht.
Als Grundessen war die Krautsuppe der Grund, am Körper das Fleisch und im Kopf den Verstand zu verlieren. Der Hungerengel lief hysterisch herum. Er verlor jedes Maß, wuchs an einem Tag so viel, wie kein Gras in einem ganzen Sommer und kein Schnee in einem ganzen Winter. Vielleicht so viel wie ein hoher spitzer Baum in seinem ganzen Leben wächst. Mir scheint, dass sich der Hungerengel nicht nur vergrößerte, sondern auch vermehrte. Er besorgte jedem seine eigene, persönliche Qual, obwohl wir uns alle glichen. Denn in der Dreieinigkeit von Haut, Knochen und dystrophischem Wasser sind Männer und Frauen nicht zu unterscheiden und geschlechtlich stillgestellt. Man sagt zwar weiter DER oder DIE, wie man auch der Kamm oder die Baracke sagt. Und so wie diese sind auch Halbverhungerte nicht männlich oder weiblich, sondern objektiv neutral wie Objekte — wahrscheinlich sächlich.
Egal wo ich war, in meinem Bettgestell, zwischen den Baracken, in der Tag- oder Nachtschicht auf der Jama oder mit Kobelian in der Steppe oder am Kühlturm oder nach der Schicht in der Banja oder beim Hausieren, alles, was ich tat, hatte Hunger. Jeder Gegenstand glich in Länge, Breite, Höhe und Farbe dem Ausmaß meines Hungers. Zwischen der Himmeldecke oben und dem Staub der Erde roch jeder Ort nach einem anderen Essen. Der Lagerkorso roch nach Karamell, der Lagereingang nach frischgebackenem Brot, das Überqueren der Straße vom Lager zur Fabrik nach warmen Aprikosen, der Holzzaun der Fabrik nach kandierten Nüssen, der Fabrikeingang nach Rührei, die Jama nach gedünstetem Paprika, die Schlacke der Abraumhalden nach Tomatensuppe, der Kühlturm nach gebratenen Auberginen, das Labyrinth der dampfenden Rohre nach Vanillestrudel. Die Teerklumpen im Unkraut rochen nach Quittenkompott und die Koksbatterien nach Zuckermelonen. Es war Zauber und Qual. Sogar der Wind fütterte den Hunger, er webte sichtbares Essen, überhaupt nicht abstrakt.
Seit wir als Knochenmännlein und Knochenweiblein füreinander geschlechtslos waren, paarte sich der Hungerengel mit jedem, er betrog auch das Fleisch, das er uns bereits gestohlen hatte, und schleppte immer mehr Läuse und Wanzen in unsere Betten. Die Hautundknochenzeit war die Zeit der wöchentlichen Entlausungsparaden im Lagerhof nach der Arbeit. Alle, aber auch alle Gegenstände mussten hinaus zum Entlausen — die Koffer, die Kleider, die Bettgestelle und wir.
Es war der dritte Sommer, die Akazien blühten, der Abendwind roch nach warmem Milchkaffee. Ich hatte alles draußen hingestellt. Dann kam Tur Prikulitsch mit dem grünzähnigen Towarischtsch Schischtwanjonow. Er trug ein frischgeschältes Weidenstöckchen, doppelt so lang wie eine Flöte, biegsam fürs Prügeln war es und am unteren Ende angespitzt fürs Wühlen. Angewidert von unserem Elend spießte er die Koffersachen auf sein Stöckchen und schleuderte sie auf den Boden.
Ich hatte mich, so gut es ging, in die Mitte der Entlausungsparade gestellt, weil die Durchsuchungen zu Anfang und gegen Ende unerbittlich waren. Doch diesmal bekam Schischtwanjonow in der Mitte der Parade Lust auf Gründlichkeit. Sein Stöckchen bohrte in meinem Grammophonkoffer und stieß unter den Kleidern auf mein Necessaire. Da legte er das Stöckchen aus der Hand, öffnete das Necessaire und entdeckte meine geheime Krautsuppe.
Seit drei Wochen hatte ich die Krautsuppe in den beiden schönen Flacons, die ich nicht wegwerfen konnte, nur weil sie leer waren. Weil sie leer waren, füllte ich sie mit Krautsuppe. Der eine Flacon war aus geriffeltem Glas, rundbauchig, mit Schraubverschluss, der andere war flachbauchig mit breiterem Hals, für den ich sogar einen passenden Holzstopfen schnitzte. Damit die Krautsuppe nicht verdirbt, versiegelte ich sie luftdicht wie zu Hause das Dunstobst. Ich träufelte Stearin um den Stopfen, die Trudi Pelikan hatte mir aus der Krankenbaracke eine Kerze geliehen.