Schto eto, fragte Schischtwanjonow.
Krautsuppe.
Wozu.
Er schüttelte die Flacons, dass die Suppe schäumte.
Pamjat, sagte ich.
Andenken, das hatte ich von Kobelian gelernt, ist bei den Russen ein gutes Wort, darum habe ich es gesagt. Doch Schischtwanjonow hat sich wahrscheinlich gefragt, für wen ich dieses Andenken brauche. Wer ist so dumm, dass er Krautsuppe in Flacons braucht, um sich hier, wo es zweimal täglich Krautsuppe gibt, an Krautsuppe zu erinnern.
Für zu Hause, fragte er.
Ich nickte. Das war das Schlimmste, dass ich Krautsuppe in Flacons mit nach Hause nehmen wollte. Prügel hätten mir nichts ausgemacht, aber er war erst in der Mitte seiner Parade und hielt sich nicht mit Prügeln auf. Er konfiszierte meine Flacons und bestellte mich zu sich.
Am nächsten Morgen führte mich Tur Prikulitsch aus der Kantine in die Offiziersstube. Er ging wie ein Getriebener über den Korso und ich wie ein Verurteilter hinter ihm her. Ich fragte ihn, was ich sagen soll. Ohne sich umzudrehen, machte er eine wegwerfende Geste wie, da misch ich mich nicht ein. Schischtwanjonow brüllte. Tur hätte sich das Übersetzen sparen können, ich kannte das alles schon auswendig. Dass ich ein Faschist, Spion, Saboteur und Schädling bin, dass ich keine Kultur habe und mit gestohlener Krautsuppe das Lager, die Sowjetmacht und das Sowjetvolk verrate.
Im Lager war die Krautsuppe dünn, aber in den Flacons, da sie so einen engen Hals hatten, war sie leer. Die paar Krautfetzen in den Flacons waren für Schischtwanjonow eine klare Denunziation. Meine Lage war prekär. Aber dann spreizte Tur seinen kleinen Finger und hatte eine Idee: Medizin. Medizin war bei den Russen nur ein halbgutes Wort. Tur merkte das rechtzeitig, drehte auf seiner Stirn den Zeigefinger, als wolle er ein Loch bohren, und sagte maliziös: Obskurantjism.
Das leuchtete ein. Ich war doch erst drei Jahre im Lager und noch nicht umerzogen, ich glaubte noch an Zaubertränke gegen Krankheiten. Tur erklärte, ich hätte den Flacon mit dem Schraubverschluss gegen Durchfall und den mit dem Holzstopfen gegen Verstopfung. Schischtwanjonow wurde nachdenklich, glaubte nicht nur, was Tur ihm sagte, sondern auch, dass Obskurantjism im Lager zwar nicht gut, aber im Leben gar nicht so schlecht ist. Er sah sich die beiden Flacons noch einmal an, schüttelte, bis ihnen der Schaum oben im Hals stand, dann schob er den mit dem Schraubverschluss ein bisschen nach rechts, den mit dem Holzstopfen genauso weit nach links, dass die Flacons ganz beieinander standen und sich berührten. Schischtwanjonow hatte von den Flacons jetzt sogar einen weichen Mund und einen milden Blick. Tur hatte wieder ein gutes Gespür und sagte:
Geh jetzt, verschwinde.
Wahrscheinlich hat Schischtwanjonow die Flacons aus unerklärlichen oder sogar erklärlichen Gründen dann gar nicht weggeschmissen.
Was sind Gründe. Ich weiß bis heute nicht, warum ich die Flacons mit Krautsuppe füllte. Hatte das mit dem Satz der Großmutter zu tun: Ich weiß, du kommst wieder. War ich wirklich so arglos zu glauben, ich komm wieder und präsentiere der Familie zu Hause meine Krautsuppe als zwei Fläschchen mitgebrachtes Lagerleben. Oder saß, trotz des Hungerengels, im Kopf immer noch die Vorstellung, dass man von einer Reise ein Souvenir mitbringt. Meine Großmutter hatte mir von ihrer einzigen Schiffsreise aus Konstantinopel einen himmelblauen, daumenkleinen Türkenpantoffel mitgebracht. Das war aber die andere Großmutter, die vom Wiederkommen nichts gesagt hatte, die in einem anderen Haus wohnte und gar nicht beim Abschied dabei war. Sollten die Flacons zu Hause meine Zeugen sein. Oder hatte ich bereits einen gutgläubigen und einen skeptischen Flacon. War unterm Schraubverschluss vielleicht die Heimreise eingefüllt und unterm luftdicht versiegelten Holzstopfen das ewige Hierbleiben. War das womöglich der gleiche Gegensatz wie Durchfall und Verstopfung. Wusste Tur Prikulitsch zu viel über mich. War es hilfreich, dass ich mich mit Bea Zakel auf Gespräche einließ.
Waren Heimfahren und Hierbleiben überhaupt noch Gegensätze. Wahrscheinlich wollte ich beidem gewachsen sein, wenn es so kommt. Wahrscheinlich wollte ich von nun an das Leben von hier, das Leben überhaupt, nicht länger abhängig machen vom Wunsch, täglich nach Hause zu wollen und es nie zu können. Je mehr ich nach Hause wollte, umso mehr versuchte ich, es nicht so stark zu wollen, dass es mich kaputtmacht, wenn ich es niemals darf. Den Wunsch nach Heimkehr wurde man nicht los, um aber außer ihm noch etwas anderes zu haben, sagte ich mir, wenn sie uns für immer hierbehalten, so ist es doch mein Leben. Die Russen leben ja auch. Ich will mich nicht sträuben, hier sesshaft zu werden, ich muss doch nur so bleiben, wie ich mit dem einen luftdicht versiegelten Flacon schon zur Hälfte bin. Ich kann mich umerziehen, ich weiß noch nicht wie, doch die Steppe wird es schon richten. Mich hatte der Hungerengel derart in Besitz genommen, dass mir die Kopfhaut flatterte, ich war damals frisch kahlgeschoren wegen Läusen.
Kobelian hatte sich im vergangenen Sommer unterm weiten Himmel einmal das Hemd aufgeknöpft, und als es flatterte, etwas gesagt von der Grasseele der Steppe und seinem Ural-Gefühl. In meine Brust geht das auch, habe ich mir gedacht.
Von der Tageslichtvergiftung
Die Sonne ist an diesem Morgen ganz früh wie ein roter Ballon aufgegangen, so aufgeblasen, dass überm Kokswerk der Himmel zu flach war.
Als die Schicht begann, war es Nacht. Wir standen im Scheinwerferkegel in der PEK-Wanne, ein 2 Meter tiefes Bassin, lang und breit wie zwei Baracken. Das Bassin war meterdick mit einer uralten versteinerten Pechschicht ausgegossen. Wir mussten es säubern mit Brecheisen und Spitzhacken, das Pech heraushacken und auf Schubkarren laden. Dann den Schubkarren über die Wackelbrücke aus Brettern aus dem Bassin hinaufschieben, bis zu den Gleisen fahren, wieder ein Brett hoch in den Waggon und dort das Pech auskippen.
Wir hackten schwarzes Glas, geriffelte, gewölbte und gezackte Klumpen flogen uns um die Köpfe. Staub sah man keinen. Erst wenn ich mit dem leeren Schubkarren über die Wackelbrücke aus der schwarzen Nacht in den weißen Lichttrichter zurückkam, glitzerte eine Organzapelerine aus Glasstaub in der Luft. Sobald der Scheinwerfer im Wind pendelte, verschwand die Pelerine und schwebte im nächsten Moment wieder an derselben Stelle als verchromte Voliere.
Um 6 Uhr war Schichtschluss und seit einer Stunde heller Tag. Die Sonne war geschrumpft, aber rabiat, ihre Kugel kompakt wie ein Kürbis. In meinen Augen juckte Feuer, alle Kopfnähte pochten. Auf dem Heimweg ins Lager war alles grell. Die Halsadern tickten und wollten platzen, die Augäpfel kochten in der Stirn, das Herz trommelte in der Brust, die Ohren knackten. Der Hals quoll wie heißer Teig und wurde steif. Kopf und Hals wurden eins. Die Schwellung griff auf die Schultern über, Hals und Rumpf wurden eins. Das Licht durchbohrte mich, ich musste schnell ins Dunkle der Baracke. Aber es hätte sackdunkel sein müssen, auch das Fensterlicht war mörderisch. Ich zog mir das Kissen über den Kopf. Gegen Abend kam Linderung, aber auch die Nachtschicht. Als es dunkel wurde, musste ich wieder unter den Scheinwerfer in die PEK-Wanne. In der zweiten Nachtschicht kam der Natschalnik mit einem Eimer, in dem eine knödlige graurosa Paste war. Wir schmierten sie uns, bevor wir ins Bassin stiegen, ins Gesicht und an den Hals. Sie trocknete gleich und blätterte wieder ab.
Am Morgen, als die Sonne aufging, tobte der Teer in meinem Kopf noch schlimmer. Ich tappte ins Lager wie eine siechende Katze, diesmal direkt zur Krankenbaracke. Die Trudi Pelikan streichelte mir die Stirn. Die Feldscherin zeichnete mit den Händen in der Luft einen noch dickeren Kopf und sagte SONZE und SWET und BOLID. Und die Trudi Pelikan weinte und erklärte mir etwas von photochemischen Mukosereaktionen.
Was ist das.
Tageslichtvergiftung, sagte sie.