Выбрать главу

Der weinrote Seidenschal

Mein Kellerkompagnon Franz Gion hatte auf dem Heimweg von der Nachtschicht gesagt: Jetzt, wo es warm wird, kann man, wenn man nichts zu Essen hat, den Hunger wenigstens in der Sonne wärmen. Ich hatte nichts zu essen und ging in den Lagerhof, meinen Hunger wärmen. Das Gras war noch braun, niedergedrückt und vom Frost verbrannt. Die Märzsonne hatte bleiche Fransen. Überm Russendorf war der Himmel aus gewelltem Wasser, und die Sonne ließ sich treiben. Und mich trieb der Hungerengel zum Abfall hinter die Kantine. Dort lagen womöglich Kartoffelschalen, wenn noch niemand vor mir da war, die meisten waren noch in der Arbeit. Als ich neben der Kantine Fenja im Gespräch mit Bea Zakel sah, nahm ich die Hände aus den Taschen und wechselte in den Spazierschritt. Zum Abfall konnte ich jetzt nicht. Fenja trug diesmal ihre lila Häkeljacke, und mir fiel mein weinroter Seidenschal ein. Nach dem Fiasko mit den Gamaschen wollte ich nicht mehr auf den Basar. Wer so gut wie Bea Zakel reden konnte, konnte auch gut handeln und meinen Schal tauschen für Zucker und Salz. Fenja hinkte gequält in die Kantine zu ihrem Brot. Kaum stand ich vor Bea, fragte ich: Wann gehst du auf den Basar. Sie sagte: Vielleicht morgen.

Bea hatte Ausgang, wann sie wollte, Passierscheine bekam sie ja von Tur, wenn sie überhaupt welche brauchte. Sie wartete auf der Bank am Lagerkorso, und ich ging den Schal holen. Er lag ganz unten im Koffer neben meinem weißen Taschentuch aus Batist. Ich hatte ihn monatelang nicht mehr angefasst, er war zart wie Haut. Es überlief mich, ich schämte mich vor seinen fließenden Karos, weil ich so verwahrlost war und er immer noch anschmiegsam mit den glänzend und matt versetzten Würfeln. Er hatte sich im Lager nicht verändert, er bewahrte im gewürfelten Muster die ruhige Ordnung von früher. Er war nichts mehr für mich, also ich nichts mehr für ihn.

Als ich ihn Bea übergab, glitten ihre Augen wieder in die zögernde Drehung, die etwas vom Schielen hatte. Ihre Augen waren enigmatisch, das einzig Schöne an ihr. Sie legte sich den Schal um den Hals und konnte nicht widerstehen, überkreuzte die Arme und streichelte ihn mit beiden Händen. Ihre Schultern waren schmal, die Arme dünne Stecken. Aber Hüften und Hintern waren mächtig, ein Fundament aus klobigen Knochen. Mit einem zierlichen Rumpf und einem massiven Unterleib war Bea Zakel aus zwei Staturen zusammengesetzt.

Bea hat den weinroten Schal mitgenommen zum Tauschen. Doch am nächsten Tag beim Appell trug Tur Prikulitsch den Schal an seinem Hals. Und die ganze nächste Woche. Er hatte meinen weinroten Seidenschal zum Appellfetzen gemacht. Jeder Appell war seither auch noch die Pantomime meines Schals. Und er stand ihm gut. Meine Knochen waren bleischwer, mit dem Ein- und Ausatmen in einem, mit den Augen hinaufdrehen und an Wolkenrändern einen Haken finden, klappte es nicht. Mein Schal an Tur Prikulitschs Hals ließ es nicht zu.

Ich riss mich zusammen und fragte Tur Prikulitsch nach dem Appell, woher er den Schal hat. Er sagte, ohne zu zögern: Von zu Hause, den hatte ich schon immer.

Er erwähnte Bea nicht, zwei Wochen waren vergangen. Ich hatte von Bea Zakel noch keinen Krümel Zucker oder Salz bekommen. Hatten die beiden Sattgefressenen eine Ahnung, wie schwer sie meinen Hunger betrogen. Hatten nicht sie mich verelenden lassen, dass mein eigener Schal nicht mehr zu mir passte. Wussten sie nicht, dass es mein Eigentum war, solang ich noch nichts dafür bekommen hatte.

Ein ganzer Monat verging, die Sonne blieb nicht so fad. Das Meldekraut wuchs wieder silbergrün, der wilde Dill gefiedert. Ich kam aus dem Keller und pflückte ins Kissen. Beim Bücken kippte mir das Licht weg, ich sah nur schwarze Sonne vor den Augen. Ich kochte mein Meldekraut, es schmeckte nach Schlamm, ich hatte immer noch kein Salz. Und Tur Prikulitsch trug immer noch meinen Schal, und ich ging immer noch zur Nachtschicht in den Keller und danach durch die leeren Nachmittage hinter die Kantine zum Abfall, der besser schmeckte als mein Falscher Spinat ohne Salz oder Meldekrautsuppe ohne Salz.

Auf dem Weg zum Abfall traf ich wieder Bea Zakel, und sie fing auch diesmal einfach an zu reden von den Beskiden, die in die Waldkarpaten münden. Und als sie aus ihrem kleinen Dorf Lugi nach Prag gekommen war und Tur vom Missionar endlich auf Handel umgesattelt hatte, fiel ich ihr ins Wort und fragte:

Bea, hast du Tur meinen Schal geschenkt.

Sie sagte: Er hat ihn einfach genommen. So ist er.

Wie, fragte ich.

Na so, sagte sie. Er wird dir bestimmt etwas dafür geben, vielleicht einen freien Tag.

In ihren Augen funkelte nicht die Sonne, sondern die Angst. Aber nicht vor mir, sondern vor Tur.

Bea, was habe ich von einem freien Tag, sagte ich. Ich brauche Zucker und Salz.

Von den chemischen Substanzen

Mit den chemischen Substanzen ist es wie mit den Schlacken. Wer weiß schon, was die Abraumhalden, die Holzfäule, der Eisenrost und Ziegelschutt alles ausdünsten. Es ging auch nicht nur um Gerüche. Als wir ins Lager kamen, erschraken unsere Augen, das Kokswerk war völlig zerstört. Man konnte sich nicht vorstellen, dass es nur der Krieg gewesen sein soll. Das Faulen, Rosten, Schimmeln, Bröckeln waren älter als der Krieg. So alt wie die Gleichgültigkeit des Menschen und das Gift der chemischen Substanzen. Man sah, dass es die chemischen Substanzen selber waren, die sich hier zusammentaten und die Fabrik in den Ruin zwangen. Es musste Havarien und Explosionen im Eisen der Rohre und Maschinen gegeben haben. Die Fabrik war einmal hochmodern, allerneueste Technik der zwanziger und dreißiger Jahre, deutsche Industrie. Auf den Schrotteilen waren noch Namen wie FOERSTER und MANNESMANN zu lesen.

Man musste im Schrott Namen suchen und im Kopf angenehme Wörter finden gegen das Gift, weil man spürte, dass diese Substanzen ihre Attacken fortsetzen und ihr Komplott auch gegen uns Internierte richten. Und gegen unsere Zwangsarbeit. Auch für die Zwangsarbeit hatten die Russen und die Rumänen schon zu Hause auf der Liste ein angenehmes Wort gefunden: WIEDERAUFBAU. Dieses Wort war entgiftet. Wenn schon AUFBAU, dann hätte es ZWANGSAUFBAU heißen müssen.

Weil ich den chemischen Substanzen nicht ausweichen konnte, ihnen ausgeliefert war — sie zerfraßen unsere Schuhe, Kleider, Hände und Schleimhäute — habe ich beschlossen, die Gerüche der Fabrik zu meinen Gunsten umzudeuten. Ich habe mir Duftstraßen eingeredet und angewöhnt, für jeden Weg auf dem Gelände eine Verführung zu erfinden: Naphtalin, Schuhcreme, Möbelwachs, Chrysanthemen, Glyzerinseife, Kampfer, Tannenharz, Alaun, Zitronenblüten. Es ist mir gelungen, angenehm süchtig zu werden, weil ich den Substanzen nicht erlauben wollte, giftig über mich zu verfügen. Angenehm süchtig heißt nicht, dass ich mich mit ihnen versöhnte. Angenehm war, dass es so wie die Hunger- und Esswörter auch Fluchtwörter aus den chemischen Substanzen gab. Dass auch diese Wörter für mich selbst substantiell notwendig waren. Notwendig und eine Folter, weil ich ihnen glaubte, obwohl ich wusste, wozu ich sie brauche.

Auf dem Weg zur Jama, am eckigen Kühlturm lief das Wasser außen herunter, es war ein Rieselturm. Ich taufte ihn PAGODE. Unten herum war ein Bassin, das auch im Sommer nach Wintermänteln roch, nach Naphtalin. Ein runder weißer Geruch wie die Mottenkugeln zu Hause im Schrank. Hier an der Pagode hatte das Naphtalin einen eckigen schwarzen Geruch. Wenn ich an der Pagode vorbei war, wurde er wieder rund und weiß. Ich sah mich als Kind.

Wir fahren mit der Eisenbahn in die Sommerferien auf die Wench. Aus dem Zugfenster sehe ich bei Kleinkopisch die brennende Erdgassonde. Sie hat eine fuchsrote Flamme, und ich staune, wie klein die Flamme ist und trotzdem im ganzen Tal die Maisfelder verdorren lässt, aschgrau wie im spätesten Herbst. Es waren Greisenfelder im Hochsommer. Man wusste aus der Zeitung: Die Sonde. Ein schlimmes Wort, es bedeutete, die Sonde brennt wieder und niemand kann sie löschen. Die Mutter sagt, sie wollen jetzt Büffelblut aus dem Schlachthaus holen, fünftausend Liter. Sie hoffen, dass es schnell gerinnt und einen Stopfen macht. Die Sonde riecht wie unsere Wintermäntel im Schrank, sage ich. Und die Mutter sagt: Ja, ja Naphtalin.