Ich ging in meine Baracke zurück. Über Siebenbürgen und Amerika und wohin die Leute sind, hatte ich gar nichts erfahren. Auch nichts über mich selbst. Ich dachte, schade um die Bohnen, vielleicht sind sie vom vielen Träumen hier im Lager abgenutzt. Man könnte daraus eine gute Suppe kochen.
Ich rede mir ja immer ein, dass ich wenig Gefühle habe. Wenn ich mir etwas zu Herzen nehme, ergreift es mich nur mäßig. Ich weine fast nie. Ich bin nicht stärker als die mit den nassen Augen, sondern schwächer. Sie trauen sich. Wenn man nur Haut und Knochen ist, sind Gefühle tapfer. Ich bin lieber feig. Der Unterschied ist minimal, ich nutze meine Kraft, um nicht zu weinen. Wenn ich mir mal ein Gefühl leiste, drehe ich den wunden Punkt um eine Geschichte, die trocken auf der Heimwehlosigkeit verharrt. Zum Beispiel auf dem Geruch von Maronen, also doch Heimweh. Aber dann sind es nur die k. u. k.-Maronen mit dem Geruch von frischem Leder, von denen mein Großvater mir erzählt hat. Als Matrose im Hafen von Pula hat er Maronen geschält und gegessen, bevor er mit dem Segelschiff Donau zur Weltumsegelung aufbrach. Demnach ist meine Heimwehlosigkeit das erzählte Heimweh meines Großvaters, mit dem ich das hiesige Heimweh zähme. Also, wenn ich mal ein Gefühl habe, ist es ein Geruch. Der Wortgeruch von den Maronen oder von dem Matrosen. Mit der Zeit wird jeder Wortgeruch taub wie die Bohnen vom Zither-Lommer. Man kann zum Monstrum werden, wenn man nicht mehr weint. Was mich davon abhält, falls ich es nicht längst schon bin, das ist nicht viel, höchstens der Satz: Ich weiß, du kommst wieder.
Ich habe meinem Heimweh schon lange trockene Augen beigebracht. Und jetzt möchte ich noch, dass mein Heimweh auch herrenlos wird. Dann sieht es nicht mehr meinen Zustand hier und fragt nicht mehr nach denen von Zuhause. Dann sind auch in meinem Kopf keine Personen mehr daheim, nur noch Gegenstände. Dann schiebe ich sie auf dem wunden Punkt hin und her, wie man die Füße schiebt bei der Paloma. Gegenstände sind klein oder groß, manche vielleicht viel zu schwer, aber sie haben ein Maß.
Wenn mir das auch noch gelingt, ist mein Heimweh nicht mehr empfänglich für Sehnsucht. Dann ist mein Heimweh nur der Hunger nach dem Ort, wo ich früher einmal satt war.
Kartoffelmensch
Zwei Monate habe ich im Lager zusätzlich zum Kantinenfraß Kartoffeln gegessen. Zwei Monate gekochte Kartoffeln mit strenger Einteilung, mal als Vorspeise, mal als Hauptgang, mal als Dessert.
Die Vorspeise waren geschälte Kartoffeln mit Salz gekocht und wildem Dill bestreut. Die Schalen habe ich aufgehoben, denn am nächsten Tag gab es den Hauptgang aus gekochten Kartoffelwürfeln mit Nudeln. Die Kartoffelschalen vom Vortag zusammen mit den frischgeschälten waren meine Nudeln. Und als Dessert gab es am dritten Tag ungeschälte Kartoffeln, in Scheiben geschnitten und auf dem Feuer geröstet. Dann wurden noch geröstete Kerne vom wilden Hafer und ein bisschen Zucker draufgestreut.
Ich hatte mir von der Trudi Pelikan ein halbes Maß Zucker und ein halbes Maß Salz geliehen. Wie wir alle dachte auch die Trudi Pelikan nach dem dritten Frieden, dass wir bald nach Hause dürfen. Den Glockenschnittmantel mit den schönen Pelzmanschetten tauschte ihr Bea Zakel auf dem Basar für fünf Maß Zucker und fünf Maß Salz. Das Geschäft mit dem Damenmantel war besser gelaufen als der Tausch meines Seidenschals. Den trug Tur Prikulitsch noch immer beim Appell. Nicht mehr ständig. In der Sommerhitze gar nicht, seit Herbst aber wieder alle paar Tage. Und ich fragte Bea Zakel alle paar Tage, wann ich von ihr oder von Tur etwas dafür bekomme.
Nach einem Abendappell ohne Seidenschal bestellte Tur Prikulitsch mich, meinen Kellerkumpan Albert Gion und den Advokaten Paul Gast in seine Dienststube. Tur stank nach Zuckerrübenschnaps. Nicht nur seine Augen, auch sein Mundwerk schien geölt. Er strich Rubriken auf der Liste durch, füllte andere mit unseren Namen und erklärte, dass der Albert Gion morgen nicht in den Keller muss und ich nicht in den Keller muss und der Advokat nicht in die Fabrik muss. In seine Rubriken hatte er gerade eben etwas anderes eingetragen. Wir waren alle miteinander verwirrt. Tur Prikulitsch begann von vorn und erklärte wieder, dass der Albert Gion morgen wie immer in den Keller muss, aber nicht mit mir, sondern mit dem Advokaten. Als ich fragte, warum nicht mit mir, ließ er die Augenlider halb herunter und sagte: Weil du morgen früh um Punkt sechs auf den Kolchos gehst. Ohne Gepäck, abends kommst du zurück. Als ich fragte, wie, sagte er: Na wie, zu Fuß. Rechter Hand kommen drei Abraumhalden, an die hältst du dich. Linkerhand kommt dann der Kolchos.
Ich war sicher, dass es nicht bloß für einen Tag sein soll. Auf dem Kolchos starb man noch schneller, man wohnte in Erdlöchern, fünf, sechs Stufen runter, das Dach aus Reisig und Gras. Oben fiel der Regen durch, unten stieg das Grundwasser. Es gab einen Liter Wasser pro Tag zum Trinken und Waschen. Man verhungerte nicht, man verdurstete in der Hitze, man bekam vom Dreck und Ungeziefer eitrige Wunden mit Tetanus. Jeder im Lager fürchtete den Kolchos. Ich war sicher, statt mir den Schal zu bezahlen, lässt Tur Prikulitsch mich auf dem Kolchos krepieren, dann hat er den Schal von mir geerbt.
Ich ging um sechs Uhr los mit meinem Kopfkissen in der Jacke, falls es auf dem Kolchos etwas zu stehlen gibt. Der Wind pfiff über die Kraut- und Rübenfelder, die Gräser wiegten sich orange, der Tau glitzerte in Wellen. Darin stand feuriges Meldekraut. Der Wind kam von vorn, die ganze Steppe lief in mich hinein und wollte, dass ich zusammenbreche, weil ich mager war und sie gierig. Hinter einem Krautfeld und einem schmalen Stück Akazienwald kam die erste Abraumhalde, dann Grasland, dahinter ein Maisfeld. Dann kam die zweite Abraumhalde. Erdhunde schauten übers Gras, braune Pelzrücken mit fingerlangen Schwänzen und bleichen Bäuchen standen auf den Hinterbeinen. Ihre Köpfe nickten, ihre Vorderpfoten waren zusammengelegt wie Menschenhände beim Beten. Auch ihre Ohren waren seitlich am Kopf angewachsen wie bei den Menschen. Eine letzte Sekunde nickten die Köpfe, dann schaukelte leeres Gras über den Erdlöchern, aber ganz anders als vom Wind.
Erst jetzt fiel mir auf, dass die Erdhunde spüren, dass ich allein und unbewacht durch die Steppe gehe. Erdhunde haben feine Instinkte, sie beten für die Flucht, dachte ich. Flucht wäre jetzt möglich, aber wohin. Vielleicht wollen sie mich warnen, vermutlich bin ich längst auf der Flucht. Ich schaute mich um, ob mir jemand folgt. Ganz weit hinten kamen zwei Gestalten, sahen aus wie ein Mann mit einem Kind, sie trugen zwei kurzstielige Schaufeln, keine Gewehre. Der Himmel war wie ein blaues Netz über die Steppe gespannt und in der Ferne ohne Durchschlupf an die Erde angewachsen.
Es hatte im Lager schon drei Fluchtversuche gegeben. Alle drei waren Karpato-Ukrainer, Tur Prikulitschs Landsleute. Die sprachen gut Russisch und wurden dennoch alle drei eingefangen und von Prügeln entstellt beim Appell vorgeführt. Und dann nie mehr gesehen, in ein Sonderlager geschickt oder ins Grab.
Jetzt sah ich linkerhand eine Bretterbude und einen Wachposten mit Pistole am Gurt, ein magerer, junger Kerl, um einen halben Kopf kleiner als ich. Er hatte auf mich gewartet, er winkte. Ich kam gar nicht zum Stehen, er hatte es eilig, wir gingen an Krautfeldern entlang. Er kaute Sonnenblumenkerne, warf sich zwei gleichzeitig in den Mund, zuckte einmal, spuckte aus dem einen Mundwinkel die Schalen und schnappte unterdessen mit dem anderen die nächsten Kerne, und schon flogen wieder die leeren Schalen. Wir gingen so schnell, wie er schnappte. Ich dachte, vielleicht ist er stumm. Er sprach nicht, er schwitzte nicht, seine Mundakrobatik kam nicht aus dem Takt. Er ging, als ziehe der Wind ihn auf Rädern. Er schwieg und aß wie eine Schälmaschine.