Dann zog er mich am Arm, wir blieben stehen. An die zwanzig Frauen waren auf dem Feld verstreut. Sie hatten keine Werkzeuge, sie gruben die Kartoffeln mit den Händen aus der Erde. Der Wachposten wies mir eine Reihe zu. Die Sonne stand wie ein Glutstück mitten im Himmel. Ich schaufelte mit den Händen, der Boden war hart. Die Haut platzte, in den Wunden brannte der Dreck. Wenn ich den Kopf hob, flogen Schwärme flimmernder Punkte vor meinen Augen. Im Hirn stockte das Blut. Auf dem Acker war dieser junge Kerl mit der Pistole außer Wachposten auch Natschalnik, Brigadier, Vorarbeiter, Nachprüfer, alles in einem. Wenn er die Frauen beim Reden erwischte, peitschte er ihnen Kartoffelkraut ins Gesicht oder stopfte ihnen faule Kartoffeln in den Mund. Und er war nicht stumm. Was er dabei schrie, verstand ich nicht. Es waren keine Kohleflüche, keine Baustellenbefehle oder Kellerworte.
Langsam verstand ich etwas anderes, dass Tur Prikulitsch mit ihm eine Absprache hat, mich den ganzen Tag arbeiten zu lassen und erst am Abend zu erschießen, weil ich fliehen wollte. Oder mich am Abend in ein Erdloch zu stecken, in ein ganz privates, weil ich hier der einzige Mann war. Oder nicht nur an diesem Abend, sondern von heute an jeden Abend, dass ich nie mehr zurück ins Lager komme.
Als der Abend kam, war der Kerl außer Wachposten, Natschalnik, Brigadier, Vorarbeiter, Nachprüfer auch Lagerkommandant. Die Frauen stellten sich zum Zählappell in die Reihe, sagten ihre Namen und die Nummer, machten die Taschen der Pufoaikas links und zeigten in jeder Hand ihre zwei Kartoffeln. Vier mittlere durften sie behalten. Wenn eine zu groß war, wurde sie umgetauscht. Ich stand als Letzter in der Reihe und zeigte mein Kopfkissen. Es war gefüllt mit 27 Kartoffeln, 7 mittlere und 20 große. Auch ich durfte 4 mittlere Kartoffeln behalten, die anderen musste ich ausleeren. Der Pistolenmann fragte, wie ich heiße. Ich sagte: Leopold Auberg. Er nahm, als hätte es etwas mit meinem Namen zu tun, eine mittlere Kartoffel und schoss sie mit dem Schuh über meine Schulter. Ich zog den Kopf ein. Die nächste schießt er nicht mit dem Fuß, die wirft er mir an den Kopf und schießt ihr im Flug hinterher mit seiner Pistole und zerfetzt sie zusammen mit meinem Hirn. Er schaute, während ich das dachte, wie ich mein Kissen in die Hosentasche stecke. Dann zog er mich am Arm aus der Reihe und zeigte, als wäre er wieder stumm, in den Abend, in die Steppe, dorthin wo ich am Morgen hergekommen war. Dort ließ er mich stehen. Und den Frauen gab er den Marschbefehl und ging hinter der Brigade in die andere Richtung. Ich stand am Feldrand, sah ihn mit den Frauen wegmarschieren und war sicher, bald lässt er seine Brigade allein und kommt zurück. Und ohne Zeugen wird es einmal knallen und heißen: Erschossen auf der Flucht.
Die Brigade marschierte wie eine braune Schlange immer kleiner in die Weite. Ich stand angewachsen vor dem großen Kartoffelhaufen und begann zu glauben, dass es zwischen Tur Prikulitsch und dem Wachposten keine Absprache gibt, sondern zwischen Tur Prikulitsch und mir. Dass der Kartoffelhaufen die Absprache ist. Dass Tur mir den Seidenschal mit Kartoffeln bezahlen will.
Ich stopfte mich bis unter die Mütze mit Kartoffeln aller Größe aus. Ich zählte 273 Kartoffeln. Der Hungerengel half mir, er war ja ein notorischer Dieb. Doch nachdem er mir geholfen hatte, war er wieder ein notorischer Peiniger und ließ mich mit dem langen Heimweg allein.
Ich ging los. Bald juckte es mich überall, die Kopflaus, die Hals- und Nackenlaus, die Achsellaus, die Brustlaus, im Schamhaar die Filzlaus. Zwischen den Zehen in den Fußlappen der Galoschen juckte es sowieso. Zum Kratzen hätte ich den Arm heben müssen, was ich mit meinen ausgestopften Ärmeln nicht konnte. Beim Gehen hätte ich die Knie biegen müssen, was ich mit den ausgestopften Hosenbeinen nicht konnte. Ich schlurfte an der ersten Abraumhalde vorbei. Die zweite kam und kam nicht, oder war sie mir entgangen. Die Kartoffeln waren schwerer als ich. Für die dritte Abraumhalde war es inzwischen schon viel zu dunkel. In alle Himmelsgegenden waren Sterne aufgefädelt.
Die Milchstraße läuft von Süden nach Norden, hatte der Rasierer Oswald Enyeter gesagt, als der zweite seiner Landsleute nach missglückter Flucht auf dem Lagerplatz vorgeführt wurde. Um nach Westen zu gelangen, hatte er gesagt, muss man die Milchstraße überqueren und rechts abbiegen, dann immer geradeaus, also sich vom großen Wagen immer links halten. Ich aber fand nicht einmal die zweite und dritte Abraumhalde, die jetzt auf dem Rückweg linkerhand kommen mussten. Lieber rundum bewacht sein als rundum verloren. Die Akazien, der Mais, auch meine Schritte trugen einen schwarzen Umhang. Die Krautköpfe schauten mir nach wie Menschenköpfe, sie trugen verschiedenste Frisuren und Mützen. Nur der Mond trug eine weiße Haube und fingerte mir im Gesicht wie eine Krankenschwester. Ich dachte, vielleicht brauche ich die Kartoffeln gar nicht mehr, vielleicht bin ich todkrank vergiftet vom Keller und weiß es noch nicht. Ich hörte stockende Vogelschreie aus den Bäumen und ein klagendes Lallen in der Weite. Die Nachtsilhouetten konnten fließen. Ich darf mich nicht fürchten, dachte ich, sonst ertrinke ich. Ich redete mit mir, um nicht zu beten:
Die beständigen Dinge vergeuden sich nicht, sie brauchen nichts als eine einzige, ewig gleiche Beziehung zur Welt. Die Beziehung der Steppe zur Welt ist das Lauern, die Beziehung des Mondes das Leuchten, die Beziehung der Erdhunde das Fliehen, die Beziehung der Gräser das Schaukeln. Und meine Beziehung zur Welt ist das Essen.
Der Wind summte, ich hörte die Stimme meiner Mutter. Im letzten Sommer zu Hause bei Tisch hätte die Mutter nicht sagen sollen, stich die Kartoffeln nicht mit der Gabel an, sie zerfallen, die Gabel nimmt man fürs Fleisch. Das hat sich die Mutter nicht vorstellen können, dass die Steppe ihre Stimme kennt, dass mich die Kartoffeln einmal nachts in der Steppe in die Erde ziehen und die Sterne oben alle stechen. Dass ich mich wie ein Schrank durch Felder und Grasland zum Lagertor schleppe, hat damals am Tisch niemand geahnt. Dass ich nur drei Jahre später allein in der Nacht ein Kartoffelmensch bin und meinen Rückweg in ein Lager Heimweg nenne.
Am Lagertor bellten die Hunde mit diesen sopranhohen Nachtstimmen, die immer dem Weinen glichen. Vielleicht hatte Tur Prikulitsch auch mit den Wachposten eine Absprache, denn sie winkten mich durch, ich wurde nicht kontrolliert. Und ich hörte sie hinter mir lachen, Schuhe tappten auf den Boden. Ich konnte mich, so ausgestopft wie ich war, nicht umdrehen, vermutlich imitierte einer meinen steifen Gang.
Dem Albert Gion habe ich am nächsten Tag 3 mittlere Kartoffeln in die Nachtschicht mitgenommen. Vielleicht will er sie in aller Ruhe hinten auf dem Feuer, in dem offenen Eisenkorb, braten. Er will nicht. Er schaut sie einzeln an und legt sie in seine Mütze. Er fragt: Warum grad 273 Kartoffeln.
Weil minus 273 Grad Celsius der absolute Nullpunkt ist, sag ich, kälter geht es nicht.
Du hast es heute mit der Wissenschaft, meint er, du hast dich doch bestimmt verzählt.
Verzählt haben kann ich mich nicht, sag ich, die Zahl 273 passt auf sich auf, sie ist ein Postulat.
Postulat, sagt Albert Gion, du hättest an was anderes denken sollen. Mensch Leo, du hättest abhauen können.
Der Trudi Pelikan gab ich 20 Kartoffeln und hatte damit Zucker und Salz bezahlt. Zwei Monate später, kurz vor Weihnachten waren die 273 Kartoffeln alle. Die letzten kriegten so blaugrüne abgleitende Augen wie Bea Zakel. Ich überlegte, ob ich ihr das eines Tages sagen soll.
Himmel unten Erde oben
Im Sommerhaus auf der Wench, tief im Obstgarten, stand eine Holzbank ohne Lehne. Sie hieß Hermannonkel. Den Namen hatte sie, weil wir niemanden kannten, der so hieß. Der Hermannonkel hatte in der Erde zwei runde Füße aus Baumstämmen. Sein Sitzbrett war nur an der Oberseite glattgesägt, an der Unterseite war die Rinde am Holz. In der prallen Sonne schwitzte der Hermannonkel Harztropfen. Wenn man sie abzupfte, waren sie am nächsten Tag nachgewachsen.