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Weiter oben auf dem Grashügel stand die Tante Luia. Sie hatte eine Lehne und vier Beine und war kleiner und schlanker als der Hermannonkel, und älter als er. Der Hermannonkel war ihr nachgekommen. Ich ließ mich vor der Tante Luia den Hügel hinunterrollen. Himmel unten Erde oben und dazwischen Gras. Immer hielt das Gras mich an den Füßen fest, dass ich nicht in den Himmel falle. Immer sah ich den grauen Unterleib der Tante Luia.

An einem Abend saß die Mutter auf der Tante Luia, und ich lag vor ihren Füßen auf dem Rücken im Gras. Wir schauten hinauf, die Sterne waren alle da. Und die Mutter zog sich den Kragen ihrer Strickjacke übers Kinn, bis der Kragen Lippen hatte. Bis nicht sie, sondern der Kragen sagte:

Der Himmel und die Erde sind die Welt. Der Himmel ist so groß, weil darin für jeden Menschen ein Mantel hängt. Und die Erde ist so groß wegen den ganzen Entfernungen bis zu den Zehen der Welt. Bis dorthin ist es aber so weit, dass man mit dem Denken aufhören muss, weil man die Entfernungen wie eine leere Übelkeit im Magen spürt.

Ich fragte: Wo ist das Weiteste auf der Welt.

Wo sie aufhört.

An den Zehen.

Ja.

Sind es auch zehn.

Ich glaube, ja.

Weißt du, welcher Mantel dir gehört.

Erst wenn ich oben im Himmel bin.

Dort sind doch die Toten.

Ja.

Wie kommen sie dorthin.

Sie wandern mit der Seele.

Hat die Seele auch Zehen.

Nein, Flügel.

Haben die Mäntel Ärmel.

Ja.

Sind die Ärmel ihre Flügel.

Ja.

Sind der Hermannonkel und die Tante Luia ein Paar.

Wenn das Holz heiratet, dann ja.

Dann stand die Mutter auf und ging ins Haus. Und ich setzte mich auf die Tante Luia, genau dorthin, wo sie gesessen hatte. Dort war das Holz warm. Im Obstgarten zitterte der schwarze Wind.

Von den Langeweilen

Heute habe ich keine Frühschicht, keine Nachmittagsschicht und keine Nachtschicht. Nach der letzten Nachtschicht kommt immer der lange Mittwoch. Er ist mein Sonntag und hört erst am Donnerstag um zwei Uhr mittags auf. Ich habe zu viel freie Luft um mich. Ich müsste mir die Nägel schneiden, aber letztes Mal schien es mir, als würde ich sie an meinen Fingern jemand anderem schneiden. Ich wusste nicht, wem.

Durchs Barackenfenster sieht man den Korso bis zur Kantine. Da kommen die zwei Zirris, sie tragen einen Eimer, darin wird Kohle sein, er ist schwer. An der ersten Bank sind sie vorbei, auf die zweite setzen sie sich, weil sie eine Lehne hat. Ich könnte das Fenster öffnen und winken oder hinausgehen. Schon schlüpfe ich in die Galoschen und bleibe dann in den Galoschen auf dem Bett sitzen.

Es gibt den langweiligen Größenwahn des Gummiwurms in der Kuckucksuhr, das schwarze Knie am Ofenrohr. Auf dem Boden liegt der Schatten des abgenutzten Holztischchens. Wenn sich die Sonne dreht, wird sein Schatten neu. Die Langeweile des Wasserspiegels im Blecheimer gibt es und das Wasser in meinen aufgepumpten Beinen. Die Langeweile der eigenen aufgerissenen Hemdnaht und der geliehenen Nähnadel gibt es und die zittrige Langeweile des Nähens, bei dem mir das Hirn über die Augen rutscht, und die Langeweile des abgebissenen Fadens gibt es.

Bei den Männern gibt es die Langeweile der unkennbaren Depressionen bei ihrem brummigen Kartenspielen ohne jede Passion. Mit einem guten Blatt muss man gewinnen wollen, doch die Männer brechen ihr Spiel ab, bevor einer gewonnen oder verloren hat. Und bei den Frauen gibt es die Langeweile des Gesangs, ihre Heimwehlieder beim Entlausen in der Langeweile der soliden Läusekämme aus Horn und Bakelit. Und es gibt die Langeweile der schartigen Blechkämme, die nichts nützen. Die Langeweile des Kahlscherens gibt es und die Langeweile der Schädel wie Porzellandosen, dekoriert mit Eiterblümchen und Girlanden aus frischen und abflauenden Läusebissen. Auch die stumme Langeweile der Planton-Kati gibt es. Die Planton-Kati singt nie. Ich habe sie gefragt: Kati, kannst du nicht singen. Sie hat gesagt: Ich hab mich schon gekämmt. Siehst du, ohne Haare kratzt der Kamm.

Der Lagerhof ist ein leeres Dorf in der Sonne, die Zacken der Wolken sind Feuer. Meine Fini-Tante zeigte auf der Bergwiese in die Abendsonne. Ein Windschub hatte ihre Haare hochgehoben wie ein Vogelnest und ihren Hinterkopf mit einem weißen Scheitel in der Mitte durchgeschnitten. Und sie sagte: Das Christkind backt Kuchen. Ich fragte: Schon jetzt. Schon jetzt, sagte sie.

Es gibt die Langeweile der vergeudeten Gespräche, um nicht zu sagen Gelegenheiten. Für einen schlichten Wunsch verbraucht man viele Wörter und vielleicht bleibt keines hängen. Oft meide ich Gespräche, und wenn ich sie suche, habe ich Angst vor ihnen, am meisten vor denen mit Bea Zakel. Es kann sein, dass ich von Bea Zakel gar nichts will, wenn ich mit ihr rede. Dass ich in ihre länglichen Augen tauche, weil ich um Gnade betteln will bei Tur. Im Grunde rede ich mit allen mehr, als ich will, um weniger allein zu sein. Als könnte man im Lager überhaupt allein sein. Kann man nicht, nicht einmal wenn das Lager ein leeres Dorf in der Sonne ist.

Es ist immer dasselbe, ich lege mich hin, denn so ruhig wie jetzt ist es später nicht mehr, weil die anderen aus der Arbeit kommen. Nachtschichtler schlafen nicht lange am Stück, nach vier Stunden Pflichtschlaf bin ich wach. Ich könnte mir ausrechnen, wie lang es noch dauert, bis im Lager wieder ein langweiliger Frühling ist mit einem nächsten sinnlosen Frieden und dem Gerücht, dass wir bald nach Hause dürfen. Und ich liege in diesem neuen Frieden im neuen Gras und habe mir die ganze Erde auf den Rücken geschnallt. Doch wir werden von hier in ein anderes Lager verlegt, noch weiter ostwärts, in ein Holzfällerlager. Und ich packe meine Kellersachen in den Grammophonkoffer, packe und packe und werde nicht fertig. Die anderen warten schon. Die Lokomotive tutet, ich spring im letzten Moment aufs Trittbrett. Wir fahren von einem Tannenwald in den nächsten. Die Tannen springen zur Seite und weichen den Schienen aus und hüpfen hinterm Zug wieder auf ihren Platz zurück. Und wir kommen an und steigen aus, zuerst der Kommandant Schischtwanjonow. Ich lasse mir Zeit und hoffe, niemand merkt, dass ich im Grammophonkoffer weder eine Säge habe noch eine Axt, nur Kellersachen und mein weißes Taschentuch. Der Kommandant hat sich nach dem Aussteigen gleich umgezogen, an seiner Uniform sind Hornknöpfe und Schulterklappen mit Eichenblättern, obwohl wir im Tannenwald sind. Er wird ungeduldig, dawaj, mach schon, sagte er zu mir, Sägen und Äxte haben wir mehr als genug. Ich steige aus, und er gibt mir einen braunen Papiersack. Schon wieder Zement, denke ich. Aber an einer Ecke ist der Sack zerrissen, und es rinnt weißes Mehl heraus. Ich bedanke mich für das Geschenk, nehme den Sack unter den linken Arm und mit dem rechten salutiere ich. Schischtwanjonow sagt: Beine lockern, in den Bergen hier muss man auch sprengen. Jetzt begreife ich, das weiße Mehl ist Dynamit.

Statt auf solche Gedanken zu kommen, könnte ich etwas lesen. Aber den schrecklichen Zarathustra, den dicken Faust und den dünngedruckten Weinheber habe ich für ein bisschen Hungerstille längst als Zigarettenpapier verkauft. An meinem vorigen freien Mittwoch habe ich mir vorgestellt, dass wir gar nicht in den Zug steigen. Dass die Baracke ohne Räder mit uns weiter in den Osten fährt und sich beim Fahren dehnt wie eine Ziehharmonika. Dass es gar nicht rüttelt, dass draußen Akazien vorbeilaufen und mit den Ästen am Fenster kratzen und ich neben Kobelian sitze und frage: Wieso fahren wir, wir haben doch gar keine Räder. Und dass Kobelian sagt: Wir fahren doch auf einem Kugellager.

Ich bin müde und habe keine Lust, mich schrecklich nach etwas zu sehnen. Es gibt allerhand Langeweilen, schnell vorauseilende und spät nachhinkende. Wenn ich sie gut behandle, tun sie mir nichts und sind jeden Tag mein Eigentum. Das ganze Jahr gibt es überm Russendorf die Langeweile des dünnen Mondes, sein Hals simuliert eine Gurkenblüte oder eine Trompete mit grauen Fingerklappen. Ein paar Tage später wächst ein halber Mond wie eine aufgehängte Schiebermütze. Und in den Tagen darauf schaut vom Himmel herunter die Langeweile einer ganzen Mondkugel, voll bis zum Überlaufen. Jeden Tag gibt es die Langeweile des Stacheldrahts auf der Lagermauer, die Langeweile der Wachposten auf den Türmen, die glänzenden Schuhspitzen von Tur Prikulitsch und die Langeweile der eigenen zerrissenen Galoschen. Die Langeweile der weißen Kühlturmwolke gibt es sowie die Langeweile der weißen Leintücher des Brotes. Und es gibt die Langeweile der gewellten Asbestplatten, der Teerschwaden und der alten Ölpfützen.